In Ballungsräumen kann öffentlicher Verkehr aufgrund der Nachfrage sehr viel attraktiver angeboten werden als auf dem Land. Wie kann in dünn besiedelten Regionen Daseinsvorsorge funktionieren?
Das dritte Themen-Panel der Taxi Driving Innovation trug den plakativen Titel „An jeder Milchkanne“. Die Formulierung steht für das Hauptproblem des öffentlichen Verkehrs auf dem Land, der immer einen Spagat verwirklichen muss zwischen einer hohen räumlichen Abdeckung mit vielen Stopps und kurzen Fußwegen zu den Haltepunkten auf der einen Seite und einer annehmbaren Reisegeschwindigkeit, die durch häufiges Halten „an jeder Milchkanne“ gesenkt wird.
Im Veranstaltungsprogramm hieß es zu dem Themen-Panel einleitend: „Bessere Mobilität für den ländlichen Raum. Zwischen Theorie und Praxis klafft eine Lücke. Sharing und Pooling wird als Lösung für die Mobilität auf dem Land diskutiert – erprobt wird aber überwiegend in Berlin, Harnburg, München. Doch es braucht Lösungen für das Land.“
Als Expertin für ländlichen Personenverkehr eingeladen war die Leiterin des Nahverkehrsamtes des Landkreises Rottweil am Nordostrand des Schwarzwalds, Heike Kopp. Der mitten in Baden-Württemberg liegende Landkreis ist relativ dünn besiedelt und infrastrukturschwach – schwierige Voraussetzungen, um Menschen flächendeckend von A nach B zu bringen.
Der ÖPNV in der Region basiert zum einen auf einem sogenannten Ringzug, laut Kopp ein S-Bahn-ähnlicher Verkehr, eher selten für den ländlichen Raum, gemeinsam betrieben mit zwei Nachbarlandkreisen und finanziell vom Land unterstützt, zweitens auf normalen Linienbussen und drittens – als Besonderheit – Taxis und Mietwagen für die Beförderung von behinderten Personen zu den Werkstätten und Schulen. Dafür gibt der Landkreis Rottweil rund zwei Millionen Euro im Jahr aus und ist somit ein wichtiger Dauerkunde des Taxigewerbes. Hinzu kommt der „Anruf-Bus“. Wie vielerorts sind die Busse zu den Hauptverkehrszeiten voll und zu den sogenannten Schwachlastzeiten leer. Diesen Missstand ist man angegangen, indem man app-basierte, Ridepooling-ähnliche Verkehre anbietet, bei denen die Abfahrtszeiten vorgeschlagen werden.
In den großen Städten werden Ridepooling-Systeme von großen Konzernen gesponsert, und jeder kennt sie: Moovel alias Reach Now, Moia, Daimler, VW usw. Sie erwirtschaften in der Regel keine Gewinne und haben keine Beförderungs- oder Betriebspflicht, zerstören aber das Taxigewerbe, weshalb auch Kopp es als notwendig erachtet, bei der PBefG-Novellierung Rücksicht auf das Taxigewerbe zu nehmen.
In den kleinen Landkreisen sind Ridepooling-Dienste nicht verfügbar, weshalb man im ländlichen Raum andere Lösungen braucht, gerade in einem Landkreis wie Rottweil, von dessen Fläche laut Kopp nur 13 Prozent besiedelt sind. Wie kann man dort von morgens bis spät abends einen attraktiven ÖPNV auf die Beine stellen? „Herkömmlicher Linienverkehr zu jeder Tageszeit ist nicht möglich, weil die großen Gefäße zu viel kosten, und wenn wir keine Fahrgäste mittags haben, brauchen wir andere Lösungen.“ Mobilität sei ein Grundbedürfnis und habe auch eine soziale Komponente, da nicht jede Familie sich ein oder mehrere Fahrzeuge leisten könne.
Man setzte sich das Ziel, landkreisweit zumindest einen Stundentakt im ÖPNV anzubieten – mit Hilfe des Anrufbusses, eines flächendeckenden, Systems, das sämtliche Städte, Gemeinden und Weiler im Landkreis – alles in allem 77 Ortschaften – an über 550 Haltestellen anbindet und eine preisgünstige Alternative zum herkömmlichen Linienverkehr ist. Er fährt täglich immer im Anschluss an den Linienverkehr. Es gilt der an den ÖPNV-Tarif angelehnte „Haustarif“ zuzüglich Zuschlag von zwei bis vier Euro, unabhängig von der Tageszeit. Den von der öffentlichen Hand zu zahlenden Zuschuss von 13 Euro je Fahrgast wolle man noch senken. Ein wirtschaftlicher Betrieb sei zwar nicht erreichbar, doch wolle man durch Maßnahmen wie den Hinzugewinn weiterer Fahrgäste und eine Optimierung der Software am Kosten-Nutzen-Verhältnis arbeiten.
Den Fahrbetrieb hat ein örtlicher Taxiunternehmer übernommen. Die Arbeit der Dispositionszentrale hat der Landkreis an einen spezialisierten Anbieter in Dortmund gegeben, dessen Mitarbeiter eine spezielle Einweisung in die Besonderheiten der schwäbischen Mundart erhalten haben, wie die Referentin schmunzelnd anmerkte. Diese Zentrale übermittelt den Fahrern die anzufahrenden Haltepunkte und die von den Fahrgästen zu kassierenden Geldbeträge. Das Ganze hat einen hohen Automatisierungsgrad, so dass am Monatsende mit wenigen Mausklicks abgerechnet wird und Nutzungsstatistiken zur Verfügung stehen.
Der Anrufbus kann nicht nur online, sondern auch telefonisch bestellt werden. Bestellungen müssen von Einzelpersonen eine Stunde im Voraus, von Gruppen am Vortag abgegeben werden.
Das flächendeckende ÖPNV-System, das Linienverkehre mit dem Anrufbus verbindet, hat sich laut Kopp bewährt und wird von den politischen Gremien unterstützt. Sie sieht darin eine nachhaltige „Antwort“ auf die Ridepooling-Systeme. Die Stärken liegen darin, dass bestehende Flotten mit vorhandenem Personal und bereits existierender Infrastruktur genutzt werden. In Zeiten ohne Rufbus-Auftrag steht jedes Fahrzeug dem normalen Taxiverkehr zur Verfügung.
Mit dem Abbau von Nutzungsbarrieren soll dem regen Zuwachs an Kunden begegnet werden. Gerade bei Senioren komme das System gut an, und es haben sich bereits regelrechte Freundschaften zwischen Fahrern und Stammkunden entwickelt. Auch die junge Generation wird eingebunden. Man wolle eine „echte Alternative zum Elterntaxi“ sein und unternehme dahingehend sehr viel. Ein eigens produzierter Werbefilm zeigt das Angebot und den Nutzen aus Sicht jugendlicher Kunden.
An der anschließenden Talkrunde nahmen neben Heike Kopp zwei weitere Experten teil: Michael Ehret vom Verband des Württembergischen Verkehrsgewerbes e. V., Betreiber einer Rufbus-Taxiflotte und aktiv im Bundesverband Taxi und Mietwagen, arbeitet unter anderem am Ziel „emissionsfreies Taxi“. Markus Pellmann-Janssen ist Vertriebsleiter bei Ioki, Tochterfirma der Deutschen Bahn AG, die Verkehrsanbieter wirtschaftlich z. B. durch Realisierung der Ab- und Zuverkehre auf der „letzten Meile“ unterstützt (sowohl in Städten als auch auf dem Land), jedoch keine eigenen Fahrten anbietet.
Auf die Frage von Moderator Gerald Meyer, ob Pellmann-Janssen es für realistisch halte, dass man – bei hinreichender Durchdringung des ÖPNV – 100.000 Privat-Pkw durch 3.000 On-Demand-Shuttle-Fahrzeuge ersetzen könne, wie die sogenannte Lissabon-Studie es ermittelt habe, sprach Pellmann-Janssen von ähnlichen Analysen, die seine Firma für Hamburg erstellt habe, und bezeichnete die Zahlen als „nicht völlig abwegig“, wobei die Reaktionen der Kunden immer einer gewissen Unwägbarkeit unterliege. Zudem reagiere der Kunde tendenziell nicht auf Verbote, sondern auf attraktive Angebote.
Pellmann-Janssen stellte klar, Haustür- zu Haustür-Verkehr sei Sache des Taxigewerbes, während Ridepooling zum klassischen ÖPNV gehöre und mit den bestehenden Strukturen verknüpft werden müsse, um das gesamte Verkehrssystem zu stärken. Anderenfalls steigen die Fahrgäste aus dem Linienverkehr um – was nicht das Ziel sein dürfe. Hier teilte er ausdrücklich nicht die Meinung von Dr. Sigrid Nikutta, der Vorstandsvorsitzenden der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, die in der vorangegangenen Diskussionsrunde vom Ziel gesprochen hatte, den von ihrem Landesbetrieb angebotenen Ridepooling-Dienst Berlkönig flächendeckend und ganztägig auf ganz Berlin ausweiten zu wollen. Zumindest zu starken Verkehrszeiten hielte er ein solches Angebot für kontraproduktiv. Es sei nur zu Zeiten mit fehlendem Linienverkehr sinnvoll, wie seine Firma es beispielsweise kürzlich in Krefeld mitgestaltet habe.
Ehret berichtete, die Wurzeln des von Kopp beschriebenen Verkehrsangebots reichten bis in die 80er-Jahre zurück. Daraus habe sich das heutige Projekt entwickelt, das eine echte Alternative zum Individualverkehr darstelle und gut angenommen werde. Mit sechs bis acht Fahrzeugen an Werktagen und zwei weiteren am Wochenende lasse sich der landkreisweite Stundentakt realisieren.
Auf die Frage nach „Hemmschuhen“ bei der Entwicklung nannte Kopp wiederum die Politik und die Kosten, die zunächst zu Widerstand aus der Bevölkerung geführt hätten. Diese schaue auch jetzt durchaus kritisch auf das Geschäft, und der Anrufbus werde in sechs Jahren auf den Prüfstand gestellt, um über eine langfristige Weiterführung zu entscheiden. Unabhängig vom leichten Bevölkerungsrückgang wünscht der Landkreis sich aber eine dauerhafte Fortsetzung, zumal der überwiegende Teil der echten Taxifahrten Krankenfahrten seien, also von Stammkunden. Den typischen Gelegenheits-Taxifahrgast wie in Berlin gebe es auf dem Land kaum. Der nutze im Landkreis Rottweil eben den Rufbus, etwa Schüler mit Monatskarten.
Pellmann-Janssen berichtete von einer Kundenbefragung in Rheinland-Pfalz, die ergeben habe, dass die Fahrgäste den Wert eines solchen Verkehrsangebots auf dem Land durchaus schätzen und fünf Euro für fair hielten. Eine daraufhin durchgeführte Preiserhöhung um 33 Prozent von drei auf vier Euro je Fahrt habe weder zu einem Nachfragerückgang noch zu wesentlichen Protesten geführt. Fazit: Bietet man ein gutes Produkt an, ist der Kunde auch zur Mitfinanzierung bereit. ar
Hinweis der Redaktion: Der Vortrag von Frau Kopp sowie die anschließende Diskussionsrunde können in Originallänge über unseren YouTube-Kanal angesehen werden.