In München erging am vergangenen Mittwoch das Urteil im sogenannten Taxischläger-Prozess. Es lohnt sich ein genauer Blick auf Tat, Urteil und Folgen.
Der Angeklagte sitzt im Sitzungssaal B175 im Justizgebäude in dem Nymphenburger Straße. Er trägt ein weißes Hemd mit offenem Kragen, das er nicht in die dunkle Jeans gesteckt hat. Er könnte Filialleiter in einem Edeka sein oder hinter dem Schalter einer Stadtsparkasse stehen. Oder er könnte einer von vielen Fahrgästen sein, die Münchner Taxifahrer jeden Tag und jede Nacht durch die Stadt fahren.
Gericht und Staatsanwaltschaft haben den Verlauf der Nacht im Dezember letzten Jahres ebenso präzise recherchiert wie die Tat. In der Urteilsbegründung wird der vorsitzende Richter Michael Höhne das alles noch einmal in die Erinnerung der Beteiligten bringen. Wie der Karosseriebauer mit einem Kumpel am 12. Dezember 2015 in einem Shopping-Center noch einen Einkaufsbummel gemacht hat. Wie sie gegen 20 Uhr mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof gefahren sind. Dort haben sie erst einige Zeit in einem Kasino verbracht und sich dann mit einem weiteren Freund auf den Weg in eine Kneipe gemacht. Dort trank der Angeklagte Alkohol „und konsumierte nasal Kokain“, wie es der Vorsitzende nennt.
Gegen Mitternacht ging es dann zur Eröffnung einer Tabledance-Bar wieder zurück in die Nähe des Hauptbahnhofs. Und wieder gab es Alkohol und Kokain. Als es ihnen dort zu voll wurde, kehrten sie – inzwischen zu fünft – gegen 1:30 Uhr in einer Kinobar ein. Und wieder Alkohol und Koks. Die Zeugen und die Aufnahmen von Überwachungsvideos werden belegen, dass der Angeklagte trotz seines Konsums noch klar gewesen sein muss. Er konnte sich normal an Gesprächen beteiligen und trittsicher gehen. So machte er sich schließlich gegen drei Uhr mit seinem Arbeitskollegen und Kumpel auf den Weg zur nahegelegenen U-Bahn-Station, die er zu dieser Zeit aber verschlossen vorfand. Da der Taxistand leer war, winkte er nach einem Taxi. Gegenüber sah sie der Taxifahrer Jozsef N. – und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Der Angeklagte hatte auf der Rückbank Platz genommen, sein Kumpel auf dem Beifahrersitz. Irgendwann wurde dem schlecht und er übergab sich über Kleidung, Sitz und in den Fußraum. Jozsef N. steuerte seine Mercedes-E-Klasse auf den Rechtsabbiegerstreifen und brachte das Taxi in einer stark belebten Straße in Schwabing zum Stehen. Er forderte den Beifahrer, der schon wieder heftig würgte, zum Aussteigen auf. Auf dem Taxameter standen ungefähr zehn Euro für die Fahrt bis hierher. Von den hinauskomplimentierten Fahrgästen wollte er 50 Euro – der Aufschlag sollte eine Reinigungspauschale sein.
Darüber regt sich Ikbal Ö. auf. Er beschimpft den Fahrer „50 Euro? Was? 50 Euro, Alter?“. Er will, dass der Fahrer aussteigt, was der auch tut, als er befürchten muss, auf seinen Fahrtkosten sitzen zu bleiben. Ikbal Ö. schlägt ihm mit voller Wucht mit der rechten Faust zweimal ins Gesicht. Jozsef N. versucht, sich noch am Seitenspiegel festzuhalten, fällt neben das Taxi und kann sich nicht mehr wehren. Ikbal Ö. beugt sich über sein Opfer, schlägt mindestens weitere zwei Mal auf den Kopf des Wehrlosen ein. Schließlich tritt er noch einmal zu, gegen den Rücken, wie er betont, nicht gegen den Kopf. Dann laufen er und sein Kumpel weg. Den schwer verletzten Taxifahrer lassen sie liegen. Der Schläger und sein Begleiter flüchteten zunächst zu Fuß und ließen sich dann von einem anderen Taxi nach Hause fahren. Tage später stellte sich Ikbal Ö. selbst der Polizei. Aus den Medien hatte er erfahren, dass das Opfer mit schwersten Kopfverletzungen im Koma lag.
Dem Angeklagten war es egal, ob sein Opfer stirbt oder nicht. Er überließ es zufällig vorbeikommenden Passanten, die Rettungskräfte zu verständigen. Er nahm den Tod seines Opfers billigend in Kauf, sagt der vorsitzende Richter bei der Urteilsbegründung. Er handelte aus niedrigen Beweggründen, denn es ging ihm darum, die Reinigungspauschale nicht zu zahlen, von der er wusste, dass die Forderung berechtigt war. Er unternahm nichts, um dem Verletzten zu helfen. Deshalb spricht der Richter auch nicht von fahrlässiger schwerer Körperverletzung – wie es die Verteidigung beantragt hatte – sondern von versuchtem Mord.
Das Urteil: sechs Jahre Haft. Für versuchten Mord in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Der Streit um den an sich lächerlichen Betrag von 50 Euro hätte den Taxifahrer beinahe das Leben gekostet, sagt Richter Höhne. Er habe den Fahrer für seine Forderung abstrafen wollen. Zu Gunsten des Angeklagten sei zu werten, dass er sich der Polizei gestellt hat – ohne das die Aufklärung der Tat wahrscheinlich unmöglich gewesen wäre –, dass er ein vollständiges Geständnis abgelegt hat, dass er bereits Zahlungen an das Opfer geleistet hat, dass er mehrfach und glaubhaft bei dem Geschädigten um Entschuldigung gebeten hat und – vor allem – dass der seine Entschuldigung auch angenommen hat.
So ein gelungener Täter-Opfer-Ausgleich sei selten, sagt der Richter. 30.000 Euro wurden schon gezahlt, weitere 10.000 Euro sollen im Februar folgen. Vor allem habe der Beklagte gezeigt, dass er bereit ist, für seine Tat Verantwortung zu übernehmen. Von Anfang an habe er bei seinem Opfer um Entschuldigung gebeten, zuerst schriftlich aus der Untersuchungshaft, dann persönlich im Gerichtssaal.
Sein Opfer wird aber lebenslang an den Folgen zu tragen haben. Die schwerste unter den zahlreichen Verletzungen ist das Schädel-Hirn-Trauma. Mehrere Operationen waren notwendig, um ihm das Leben zu retten. Blutungen ins Gehirn hätten es ihn fast gekostet. Zwei Wochen lag er im Koma. Bis heute leidet der Taxifahrer, der diesen Beruf wahrscheinlich nie wieder ausüben wird, unter Schwindel und Kopfschmerzen, monatelang kamen zudem Doppelbilder dazu. Er meidet Menschenansammlungen, traut sich nicht zu verreisen und kann seinen Hobbys – Fahrradfahren und Schlittschuhlaufen – nicht mehr nachkommen. Sein Leben hat sich durch die Tat grundlegend geändert. Trotzdem will er seinem Peiniger die Chancen auf einen Neustart nicht verbauen.
Das Urteil birgt eine echte Chance in sich. Denn für die nächsten zwei Jahre wird sich Ikbal Ö. in einer geschlossenen Entziehungseinrichtung seiner Sucht stellen müssen. Gelingt ihm das, dann könnte er die Suchtklinik als freier Mann verlassen. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft hätte er dann die Hälfte der sechs Jahre verbüßt, und die Reststrafe kann zur Bewährung ausgesetzt werden. (tb)
Die vollständige Fassung der Reportage erscheint voraussichtlich in der ersten Taxi Times München-Ausgabe im neuen Jahr.