Wie schon im September 2021 könnte die Wiederholungswahl 2023 eine Schicksalswahl auch für das Taxigewerbe sein, da die bisherige Verkehrssenatorin das Spitzenamt haben möchte.
Diese Meldung ist am 28.2.2023 aktualisiert worden. Siehe unten.
Derzeit spaltet wohl neben der AfD keine Partei das Land so sehr wie Bündnis 90/Die Grünen, sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern, wenn auch mit unterschiedlichen Themen. Bei der Wahlwiederholung im Bundesland Berlin ging es gestern um nicht weniger als eine Fortsetzung der bisherigen Senatspolitik, mit der knapp drei Viertel unzufrieden sind, oder um einen Wechsel zu einem CDU-Regierungschef.
Sowohl für die Anhänger der Grünen als auch für ihre Gegner war der gestrige Wahlabend atemberaubend spannend, denn auch diesmal gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der SPD, und wieder lagen beide Parteien über Stunden gleichauf. Diesmal ging es dabei zwar – anders als vor anderthalb Jahren – nur um den zweiten Platz hinter dem klaren Wahlsieger CDU, aber zur Entscheidung stand und steht diesmal noch mehr.
Am Wahlabend im September 2021 hatte es nach ersten Prognosen und Hochrechnungen nach einem knappen Wahlsieg der Grünen ausgesehen. Doch die Begeisterung bei den Grünen-Anhängern verwandelte sich im Laufe des Abends in Ernüchterung, denn mit jedem neuen Zwischenstand wuchs die rote Säule der SPD und die grüne Säule schrumpfte. Am Ende war die SPD die Nummer Eins und Franziska Giffey wurde Senatschefin. Bettina Jarasch bekam das Umwelt- und Verkehrsressort, zwei Themen, die zum Leidwesen der Autofahrer vor Jahren zusammengelegt worden waren. Der bis dato Regierende Bürgermeister Michael Müller, der nicht mehr kandidiert hatte, hatte schon vorher Kurs in Richtung Bundestag aufgenommen.
Während es bei der „Original-Wahl“ im September 2021 schon vorher als sicher galt, dass die Dreierkoalition aus SPD, Linke und Grünen das Land Berlin weiterhin regieren würde, bestand die spannende Frage darin, ob weiterhin die SPD federführend sein würde, nur nicht mehr unter Michael Müller, sondern unter Franziska Giffey, oder ob die SPD zur Nummer Zwei würde und damit die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch den Chefsessel im Berliner Rathaus übernehmen würde. Dass CDU, AfD und FDP in der Koalition bleiben würden, stand wie gesagt fest.
Das Spannende an der Wiederholungswahl, die sich eher wie eine Neuwahl anfühlt (auch weil man die Zahlen automatisch mit denen von 2021 vergleicht und nicht mit denen von 2016), ist zum einen das noch knappere Rennen um Platz zwei: Von Anfang an lagen SPD und Grüne noch immer auf ein Zehntel Prozent genau gleichauf, was sich bis heute Morgen nicht änderte. Zum anderen hängt davon, wer von beiden schlussendlich auf dem zweiten Platz landet, viel mehr ab als vom Kampf um Platz eins vor anderthalb Jahren: Nachdem die CDU jetzt um zehn Prozent auf rund 28 Prozent zugelegt hat und der klare Wahlsieger ist, kann Platz zwei möglicherweise entscheiden, ob Berlin von der drastisch geschwächten amtierenden Koalition weiter regiert wird, oder ob die CDU künftig federführend ist, ob in einer Großen Koalition, die aufgrund des Ausscheidens der FDP rechnerisch möglich ist, oder etwa in einer schwarz-grünen Koalition, die zwar bei beiden Parteien und deren Anhängern nicht gerade favorisiert wird, aber rechnerisch möglich ist.
Was sich bereits vor der Wahl, als Grüne und SPD in den Umfragen gleichauf lagen, abzeichnete, ist die kuriose Situation, dass ein paar mehr Stimmen für die Grünen deren Verbleib im Senat unwahrscheinlicher machen, während weniger Stimmen ihr Weiterregieren und sogar ihre Übernahme des Chefsessels wahrscheinlicher machen.
Der Grund liegt darin, dass für jeden Spitzenpolitiker – und somit auch für Franziska Giffey – der Chefsessel im Zweifelsfall wichtiger ist als die Wahl des Koalitionspartners. Soll heißen: Sollte Giffeys SPD am Schluss mehr Stimmen haben als die Grünen, steht den Sozialdemokraten im Falle einer Fortsetzung der Koalition mit Grünen und Linke die Führungsrolle und Franziska Giffey der Chefsessel im „roten“ Rathaus zu. Entschiede sich die SPD dagegen zu einer Großen Koalition, wäre sie automatisch der kleinere Koalitionspartner und die CDU dürfte ihren Spitzenkandidaten Kai Wegner feierlich im Chefsessel platzieren.
Liegt die SPD nach der endgültigen Auszählung dagegen auf Platz drei, so verliert Giffey das Spitzenamt in jedem Fall – und kann befreit von der Bürde ihres Amtes rein nach Sachabwägungen entscheiden, ob die CDU der willkommenere Koalitionspartner ist, oder ob die linken und grünen Senatspartner trotz des abstrafenden Wahlergebnisses mit im Boot bleiben dürfen, was rechnerisch ebenso möglich sein wird.
Argumente für sich haben beide Seiten: Die CDU argumentiert, als mit großem Abstand stärkste Partei stehe ihr auch die Führung im Senat zu. Die Gegenseite macht – nicht minder zutreffend – geltend, dass die Mehrheit ihr Kreuzchen beim linken Lager (SPD, Grüne, Linke) gemacht hat, auch wenn sich das auf mehrere Parteien verteilt.
Insgesamt hat das konservative Lager (CDU, AfD, FDP) allerdings um rund neun Prozent zugelegt (wenngleich das für die FDP ein schwacher Trost ist), was die Argumentation des links-grünen Lagers schwächt: Wenn man derart „abgestraft“ wird, ist es dann redlich, einfach weiter zu regieren?
Aus Sicht von CDU-Spitzenmann Kai Wegner in dem Fall nicht. Er hat bereits in den ersten Fernsehinterviews nach Schließung der Wahllokale seinen Führungsanspruch im künftigen Senat erhoben.
Doch was erwartet die CDU, sollte sie in den verbleibenden dreieinhalb Jahren der Legislaturperiode tatsächlich die erste Geige spielen? Viele von den Medien befragte Wähler haben angegeben, die CDU nicht aus voller Überzeugung, sondern eher aus Enttäuschung und Protest gegen den amtierenden Senat gewählt zu haben. Eine CDU mit wenig bekanntem Personal, die es quasi auf Probe auch mal wieder versuchen darf, nachdem die anderen vor die Tür geschickt werden, hat es sicherlich schwer, ihre Mehrheit zu halten, besonders, wenn sie eine so schlecht funktionierende Verwaltung und so viele andere katastrophal marode Dinge vorfindet, dass es kaum möglich ist, daraus so schnell wieder eine funktionierende Stadt zu machen, wie sie es im Wahlkampf vollmundig angekündigt hat.
Vielleicht könnte die CDU mit einem der beiden großen Themen punkten, die auch für das Taxigewerbe bedeutend sind: Verkehrspolitik. Die Grünen haben in ihrer nunmehr sechs Jahre und zwei Monate dauernden Führung der Verkehrsverwaltung vieles verändert, unter anderem neue Straßenbahnstrecken auf den Weg gebracht und zum Teil bereits eröffnet, die Geltungsdauer von Busspuren auf rund um die Uhr erweitert, viele Parkplätze beseitigt, Popup-Radwege und richtige Fahrradspuren eingerichtet, und das zum Teil auf Kosten von Auto-Fahrstreifen und an Stellen, an denen bereits funktionierende Radwege vorhanden waren (Beispiel Unter den Eichen, Hansabrücke). Diejenigen Maßnahmen, die eher als zu radikal und als ein „Gegeneinander“ angesehen werden, lassen sich theoretisch mit überschaubarem Aufwand rückgängig machen, während die sinnvolleren, zukunftsweisenden Maßnahmen Bestand hätten. Straßenbahnlinien werden dringend benötigt, entlasten die Straßen und bringen die Verkehrswende im Unterschied zur Beseitigung von Parklücken sinnvoll voran.
Beim zweiten großen Thema, dem Behördenversagen unter anderem beim Umgang mit den unseriösen Fahrdienstanbietern, wird die CDU es ungleich schwerer haben, und hier stellt sich zudem die Frage, inwieweit sie überhaupt gewillt ist, etwas im Sinne des Taxigewerbes zu tun. Die CDU mag weniger neoliberal gestrickt sein als die FDP, aber bei der PBefG-Novelle hat auch die Union sich nicht von ihrer sozialsten, unbestechlichsten Seite gezeigt.
Für die allgemeine Bevölkerung sind zudem andere Themen wichtiger: Dass es unmöglich ist, einen zeitnahen Termin im Bürgeramt zu bekommen, dass es immer mehr Stau und weniger Parklücken gibt, dass das Sicherheitsempfinden abnimmt und die Polizei stetig an Kontrolle verliert, und viele weitere Missstände wird die CDU vorrangig ändern wollen und müssen, falls sie Regierungspartei wird.
Nach der endgültigen Auszählung hat die SPD laut offiziellen Angaben einen mikroskopisch kleinen Vorsprung vor den Grünen von 105 Stimmen, und das bei über 2,4 Millionen Wahlberechtigten. Es sind 0,0069 Prozentpunkte. Muss eine so knappe Differenz darüber entscheiden, wer demnächst die Landesregierung für 3,7 Millionen Menschen führt?
Übrigens haben nur 63 Prozent der Wahlberechtigten abgestimmt, davon 0,7 Prozent ungültig. Die größte Säule, die die Grafiken der Statistiker haben müssten, ist also eine mit 37,6 Prozent: der Prozentsatz derer, die gar keine Partei angekreuzt haben. ar
Aktialisierung vom 28.2.2023:
Nachdem irgendwo in Berlin noch einige hundert Wahlzettel aufgetaucht sind, die bei der Auszählung vergessen worden waren, die nun nachträglich in das Ergebnis eingeflossen sind, ist der bislang schon hauchdünne Vorsprung der SPD vor den Grünen nochmals auf die Hälfte zusammengeschmolzen und beträgt nun nicht mehr 105 Stimmen, sondern nur noch 53. In Prozentpunkten ausgedrückt liegen die Sozialdemokraten nicht mehr um 0,0069 Prozentpunkten vor ihrem grünen Koalitionspartner, sondern nur noch um 0,0035.
Beitragsbild: Wer ist demnächst Regierende(r) Bürgermeister(in)? Franziska Giffey, Kai Wegner oder Bettina Jarasch? Personen: Screenshots aus verschiedenen Fernsehprogrammen; Rathaustür: Foto Axel Rühle; Collage: Axel Rühle