Den französischen Kinofilm „Im Taxi mit Madeleine“ sehen Taxifahrer mit anderen Augen als normalsterbliche Kinobesucher. Begeistert sind sie ebenso, und das heißt was.
Wer sich vorab die Kritiken über den Film anhört, muss große Erwartungen haben. Wer das französische Kino kennt, kann auch Befürchtungen haben. Wie oft werden in Kino- und Fernsehfilmen Szenen mit Taxifahrten unrealistisch dargestellt – einfach, weil die Autoren sich nicht informieren und irgendwas drehen, was ihrer Vorstellung entspricht. So wie echte Polizisten bei vielen Krimis die Augen verdrehen, geht es Kennern des Taxigewerbes häufig in Szenen, denen anzumerken ist, dass Drehbuchautor und Regisseur sich nicht für das Thema Taxi interessieren.
Der Trailer, also die zweiminütige Film-Vorschau, die es online gibt, sagt nicht allzu viel über die Qualitäten des Films aus. Dass der deutsche Filmtitel nicht „Die Taxifahrt von Madame Madeleine“ oder ähnlich lautet, sondern „Im Taxi mit Madeleine“, also aus Sicht des Fahrers formuliert, in dessen Perspektive der Zuschauer mitgenommen wird, ist ein gutes Omen: Die Macher haben sich wirklich auf das Phänomen Taxi eingelassen. Im französischen Original heißt der Film übersetzt „Eine schöne Fahrt“.
Das Fehlen von theatralischen Szenen und eines großen Spannungsbogens lässt Raum für die Nuancen im Leben der Charaktere mit ihren Befindlichkeiten und Sorgen an einem normalen Tag in einer europäischen Großstadt in den 2020er-Jahren, die der Zuschauer in sparsamen Dosen unaufdringlich erfährt, auch wenn die Musik mitunter etwas schwerer ist als die Handlung. Da ist der normale, von Geldsorgen geplagte Berufstaxifahrer Charles (gespielt von Dany Boon), Mitte 40, verheiratet, ein Kind, Eheprobleme, der sich entscheiden muss, ob er mit dem schmalen Umsatz der bisherigen Schicht nach Hause fährt, oder ob er noch einen angebotenen Fahrauftrag mit längerer Anfahrt annimmt. Er hat Probleme mit seinem Bruder, dem er Geld schuldet, und nimmt den Auftrag der Funkzentrale in der Hoffnung auf eine unkomplizierte Tour an.
So tritt der zweite Charakter in die Handlung ein, der 92-jährige Fahrgast Madeleine. Man würde die energische Seniorin auf Mitte 70 schätzen, aber die Schauspielerin Line Renaud war beim Dreh im vorletzten Jahr tatsächlich 92 bzw. 93. Beide sind in Frankreich bekannte Schauspieler.
Madeleine soll mit ihrem Koffer in ein Altenheim am anderen Ende der Stadt gefahren werden, wo sie ab sofort wohnen soll – worauf sie keine Lust hat. So bittet sie Charles, der alle Lebensgeschichten seiner Fahrgäste schon kennt und keine Lust auf ein Gespräch hat, einen Abstecher in eine Gegend zu machen, die nicht am Weg liegt, da sie noch einmal sehen möchte, wie es dort heute aussieht. Ohne Zwang entsteht so doch langsam ein Gespräch zwischen den beiden, bei dem man – an mehreren Orten, zu denen weitere Abstecher gemacht werden, während der Betrag auf dem Taxameter wächst – die Lebensgeschichte der Frau erfährt, die aus Höhen und Tiefen bis hin zu Schicksals- und Befreiungsschlägen besteht, die in Rückblenden daherkommen und den Zuschauer mitunter nach Luft schnappen lassen, ohne an den Haaren herbeigezogen oder dick aufgetragen zu wirken.
Ein Unterschied zu anderen Filmen besteht darin, dass zwar durchaus Dinge vorhersehbar sind, die Charaktere aber zurückgenommen und nicht geltungsbedürftig sind. Die äußerst lebenserfahrene, aber dennoch zugewandte und interessierte Madeleine fragt aus dem einen oder anderen Zusammenhang heraus auch Charles nach seiner Sicht. So erfährt man nach und nach auch über ihn Dinge, die genau so dosiert sind, dass man ihn kennenlernt, ohne dass der Blick auf das – ungleich interessantere – Leben von Madeleine verstellt wird. Zwar ist Madeleines Story mit dem trinkenden Ehemann, gegen dessen Gewaltattacken sie sich nach langem Aushalten auf eine Art wehrt, die ihr eine Gefängnisstrafe einbringt, etwas völlig anderes als Charles’ Story, welche Eissorte seine Tochter am liebsten mag, aber für beide Personen hat es jeweils eine eigene Bedeutung, die den Charakter menschlich und liebenswert macht.
Slapstick-Elemente werden in dem lebensnahen Film ebenso vermieden wie künstliche Spannung. Dennoch ist man gefesselt und schmunzelt öfter. Einer der spannendsten Momente ist der, als der Zuschauer kurz auf die Folter gespannt wird, mit welchen Argumenten Madeleine wohl die Polizistin unter vier Augen dazu gebracht hat, Charles wegen der roten Ampel nicht den Führerschein abzunehmen. Die Pointe ist kein Knaller, begründet aber einen Vertrautheits- und Sympathiesprung zwischen den beiden, der so dennoch eine Marke im Plot des Films setzt. Die Wendungen im langen Leben von Madeleine sind stets unausweichliche Folgen tragischer Ereignisse, von denen man in den Rückblenden erfährt. Die wenigen Dinge, die Charles von sich erzählt, werden nie als Rückblende gezeigt. Die Wendungen in seinem eigentlich geradlinigen Leben entstehen stattdessen durch Feinheiten, die der Zuschauer in der gegenwärtigen Handlung miterlebt. Sie beruhen oft auf Erkenntnissen, die aus klugen Äußerungen Madeleines entstehen.
Bis zum Ende, das wiederum weder besonders überraschend noch an den Haaren herbeigezogen ist, bleibt der Film realitätsnah und weitgehend glaubwürdig und vermag es, das Publikum mitzunehmen und in Teilen zu Tränen zu rühren.
An dem Film ist nichts „platt“ geraten. Ein Fallstrick hätte das Theatralische sein können, das bei einem französischen Film, der sentimentalen Inhalt erwarten lässt, durchaus nicht überrascht hätte. Drei weitere mögliche K.O.-Kriterien hätten eine schlechte Synchronisation, ein künstlich übertriebener Spannungsbogen und zu viel Tränendrüsensentimentalität sein können. Die Macher hätten durch vieles, was es schon gab, einen schlechten oder mittelmäßigen Film erzeugen können. Wenn bei Einsetzen des Abspanns weder ungeduldig aufgesprungen noch pathetisch Applaus geklatscht wird, sondern von allen Seiten – auch von Angehörigen des Taxigewerbes – leise Bestätigung zu vernehmen ist, dass der Film schön und realitätsnah sei, dann bestätigt das: Der Film „Im Taxi mit Madeleine“ bietet einen realistischen Einblick in Momente, die der Beruf des Taxifahrers nicht täglich, aber von Zeit zu Zeit mit sich bringt, und stellt die Arbeit am Steuer nicht klischeehaft, romantisierend oder verkennend dar, sondern schlicht und einfach menschlich. Er zeigt, dass Taxifahrer nur allzu häufig Ansprechpartner für die persönlichsten Dinge sind und zuhören können. Wie aus Begegnungen mit Fremden menschliche Beziehungen entstehen können, wird in dem Film unpathetisch, unaufdringlich und einfühlsam vermittelt. Nicht nur Filmbegeisterte, auch Angehörige des Taxigewerbes haben guten Grund, ihn weiterzuempfehlen. ar
Szenenbilder: Jean-Claude Lother
Beitragsfoto: Axel Rühle