Ein Busfahrer, der nicht mehr auf dem schweißnassen Sitz seines Kollegen Platz nehmen wollte, hat eine belüftete Sitzauflage entwickelt, die auch das Taxifahren angenehmer machen kann. Die Serienreife scheitert bisher kurioserweise an den fehlenden Prüfkriterien.
Bernd Liniger aus dem brandenburgischen Calau im fährt seit vielen Jahren Linienbus und fand es jedes Jahr im Sommer unangenehm, wenn er an seinem Arbeitsplatz nicht nur in seinem eigenen Schweiß saß, sondern auch in dem seines Kollegen aus der Schicht davor. Aus diesem „Leidensdruck“ heraus wurde er zum Erfinder. Für Großraumtaxis ist seine Sitzauflage bereits erhältlich (siehe unten).
Von 2010 an testete Liniger verschiedene Sitzauflagen, die er irgendwo bekommen konnte. „Nach spätestens einem halben Jahr waren sie platt“. 2016 begann er, mit eigenen Sitzauflagen zu experimentieren, bei denen der Fahrer auf einem Drahtgeflecht sitzt, das Luft durchlässt. Durchmesser, Windungsabstand, Drahtstärke – es gab weder Berechnungen noch Erfahrungen, deshalb folgte die Vorgehensweise dem Motto „Versuch und Irrtum“. Wichtig war ihm dabei, dass die Matten stabil sind: Jede Verletzungsgefahr musste ebenso ausgeschlossen sein wie eine zu schnelle Abnutzung, mit der er zu Beginn seiner Versuche konfrontiert war. Als hauptberuflicher Busfahrer hatte er das perfekte Experimentierfeld am eigenen Arbeitsplatz. Auch die Befestigung am Fahrersitz durfte nichts Halbes sein.
Das Ergebnis ist eine Matte aus 50 Edelstahlfedern, die unter dem Gesäß des Fahrers 15 Millimeter Luft zirkulieren lässt, denn die Matte „ist gedacht für Profis, die jeden Tag acht Stunden damit arbeiten müssen“. Liniger redet nicht um den heißen Brei: Die Matte „ist elastisch und passt sich jedem Hintern und jeder Sitzfläche an.“
Damit sie nicht nur locker auf dem Sitz liegt und verrutschen kann, versah er die Ränder mit Klammern, die am unteren Rand seines Bussitzes Halt bieten. Auch ein acht Millimeter starkes, ebenfalls belüftetes Rückenteil mit Antirutschbeschichtung hat er dazu entwickelt, die mit einem verstellbaren Gurt an der Kopfstütze aufgehängt wird.
Über die Erfindung berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (mdr) am 27. September in seinem Fernsehmagazin „Einfach genial“, in dem seit 1996 wöchentlich Erfindungen aller Art von Privatpersonen und kleinen Firmen vorgestellt werden. Der Erfinder selbst zeigt vor der Kamera eindrucksvoll die Robustheit und Stabilität seiner Sitzauflage, unter anderem, indem er – vom Fernsehteam zu einem kleinen Stunt überredet – mit einem Bus über ein Exemplar fährt, das dabei augenschinlich keinen Schaden nimmt.
Außerdem wird gezeigt, dass Linigers Erfindung nicht nur für den Fahrersitz im Bus taugt: „Sein ehemaliger Chef nahm die Auflage eine Woche lang mit ins Büro, um sie da zu testen“ – auch auf Kunstledersesseln sitzt es sich im Hochsommer nicht immer angenehm trocken. Im Büro hätten auch andere Kollegen schnell großes Interesse gezeigt, und ein begeisterter junger Mitarbeiter habe darauf bestanden, den Prototypen gleich den ganzen Sommer lang zu „testen“.
So kreierte Liniger einen weiteren Prototypen für Bürostühle. Da diese meist keine Kante für Klammern wie im Bus bieten (wie sie auf dem Bild zu sehen sind), befestigte er an der Büroversion seiner Auflage Gurte, die um die Sitzfläche gespannt werden, um auch hier ein Verrutschen zu unterbinden. Die Sitzfläche versah er zudem – rein für die Optik – mit einem Polyesterbezug, nachdem einige Mitarbeiterinnen sich gescheut hätten, sich auf „blankes Metall“ zu setzen, wie Liniger gegenüber Taxi Times erzählt. Seinen Busfahrer-Kollegen, die vom Sitzkomfort begeistert sind, sei das Aussehen egal.
Mit dem jetzigen Exemplar, das auf Bussitze des größten Herstellers ausgelegt ist, „will er in die Produktion gehen“, wie es in der „Einfach genial“-Folge heißt. 2019 hat Liniger sich seine Erfindung patentieren lassen. 2020 gründete er seine kleine Firma, die er „Coool Seat“ nannte. „Schon jetzt tüftelt er an Sitzauflagen für Autofahrer“, heißt es im Fernsehbericht abschließend. Eine Schwierigkeit ist hierbei noch zu knacken: Liniger will, dass die Auflage sich von einer Person einfach anbringen und wieder entfernen lässt, so dass jeder Fahrer persönlich spontan entscheiden kann, ob er die Auflage nutzt oder nicht. Das funktioniert bereits problemlos auf Sitzen des größten Herstellers in Bussen, Lkw und Kastenwagen sowie Kleinbussen mit entsprechenden Sitzen, also auch Großraumtaxen wie etwa Fiat Talento, Ford Tourneo usw. Für Sitze anderer Hersteller und für Pkw-Sitze ist die optimale Lösung noch in Arbeit.
Da Bernd Liniger an alles denkt, hat er seine Erfindung auch von medizinischer Seite prüfen lassen. Dr. med. Ruben Jentzsch, Orthopäde und Unfallchirurg aus Leipzig, der die Sitzauflage untersucht und in seiner Praxis auch gleich mit seinem Personal praktisch getestet hat, attestiert der Erfindung sogar eine stimulierende Wirkung auf den Wirbelsäulenbereich: „Die Installation ist relativ einfach und mit etwas Übung selbst auf unterschiedlichen Stuhlmodellen gut machbar. Wir haben bei uns in der Praxis verschiedene Bürostühle, und es war möglich, auf jedem dieser Bürostühle sicher diese Sitzauflage zu installieren.“ Das Sitzgefühl sei „spätestens nach 5 Minuten“ angenehm mit ausreichender Luftzirkulation unterhalb der Gesäßfläche.“ Gerade an warmen Tagen scheint ihm diese Lösung „eine sehr geeignete“ zu sein.
Besonders positiv hebt der Mediziner hervor, dass auch „etwas höher gewichtigere Personen“ eine ausreichende Belüftung unterhalb der Gesäßfläche haben, „da die Feder-Ring-Struktur rigide genug ist, dass sie nicht zusammengedrückt wird.“ Zudem werde „durch die initial raue Struktur die Wirbelsäule sensomotorisch propriozeptiv stimuliert“, was „zu notwendigen wechselnden Bewegungsmustern im Bereich der Rumpfmuskulatur“ und folglich „zu einer Reduzierung von muskulär bedingten Rückenschmerzen führen“ könne. Gesamturteil des Arztes: „Insgesamt eine gelungenere Innovation, die das gesunde Sitzen mit vor allem ausreichender Belüftung unterstützt und deswegen von meiner Seite her klar empfohlen werden kann.“ Liniger will sein Produkt aber nicht als medizinisches Produkt verstanden wissen: „Zu behaupten, dass die Auflage Rückenschmerzen lindern würde, wäre übertrieben.“
Auch vom TÜV Rheinland hat Liniger sich seine Erfindung absegnen lassen. Im Prüfbericht vom 16.8.2022 wird von einer Dauerfunktionstüchtigkeit von 40.000 Zyklen ausgegangen. Die Sitzauflage sei für Personen bis 180 kg geeignet und halte zuverlässig zehn Jahre. Aus einer Idee für den Eigenbedarf ist also ein doppeltes Allround-Produkt geworden.
Die Serienreife ist trotz allem noch nicht in Sicht, und das liegt an besonderen Hürden, die der deutsche Paragraphendschungel mit sich bringt, wie Liniger beschreibt: Ein Produkt lässt sich mit großem, aber überschaubarem Aufwand auf den Markt bringen, nachdem es gemäß aller Vorschriften geprüft und von den zuständigen Institutionen abgesegnet worden ist. Hier liegt das Problem: Es gibt in Deutschland (noch) keine Prüfvorschriften für Sitzauflagen, weil das Produkt neuartig ist. Wo keine Prüfkriterien festgelegt sind, wird nichts geprüft, und somit gibt es für die neue Erfindung auch keine KBA-Nummer wie bei anderen Autoteilen, mit denen das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) eine Identifizierung ermöglicht und somit eine Gütesiegel-ähnliche Registrierung vornimmt. In Folge kann Liniger für die Sitzauflage kein CE-Zeichen bekommen, das den Vertrieb erheblich vereinfachen würde. In seinem Bemühen, das Produkt anerkennen zu lassen, ist er bereits „hoch bis zum Ministerium“ gegangen. Die Berufsgenossenschaft habe sein Produkt für gut befunden, darf aber nach ihren Statuten grundsätzlich keine Beurteilungen abgeben, da dies ein Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit sein könne, so Liniger. Auch vom DEKRA sei eine Absage gekommen.
Die mögliche Lösung des Problems hat der Erfinder in Dresden gefunden: An der dortigen Technischen Universität beschäftigt sich jetzt ein Experte für Fahrzeugtechnik mit der Sitzmatte.
Noch kann Liniger seine Erfindung daher nur im kleinen Rahmen vertreiben. Sein Chef beim Busverkehrsanbieter in der Nähe von Cottbus ist von der Sitzauflage begeistert und hat allen Fahrern gestattet, sie in allen Fahrzeugen zu benutzen. So können es auch Fuhr- und Taxibetriebe tun – zunächst nur für Großraumfahrzeuge.
Liniger betreibt für seine Sitzauflage und das Rückenteil keine Online-Vermarktung, da er die Erfahrung gemacht hat, dass ein so neuartiges Produkt nur von Interessenten gekauft wird, die es ausprobiert haben. Durch eine reine Beschreibung, und sei sie noch so überzeugend und verlockend, ließe sich kaum jemand zum Kauf veranlassen, wie ihm auch Marketing-Experten betätigt hätten.
Er verleiht deshalb Exemplare zum Ausprobieren. Taxiverbände und Betriebe mit Großraumfahrzeugen, die Interesse haben, die Sitzauflage und das Rückenteil zum Testen auszuleihen, sollen sich bei Bernd Liniger per E-Mail melden. Das gleiche gilt natürlich für Kaufinteressenten. Die Sitzauflage kostet derzeit 120,00 Euro, das Rückenteil 65,00 Euro. Diese Preise sind allerdings nur Einstiegspreise – „Vorkriegspreise“, wie Liniger es scherzhaft nennt. Um Gewinn zu erwirtschaften, muss er seine Produkte künftig teurer anbieten. Die Preise dürften sich dennoch bezahlt machen: Neben der guten Verarbeitung und Robustheit besteht ein großer Vorteil in der Pflegeleichtigkeit: Die aus Edelstahl gefertigten Auflagen lassen sich problemlos reinigen und desinfizieren. ar
Kontakt: Firma Coool Seat, Bernd Liniger, E-Mail-Adresse: [email protected]
Link zur erwähnten Folge des Fernsehmagazins „Einfach genial“
Fotos: Screenshots aus der mdr-Sendung „Einfach genial“ vom 27.9.2022