In Berlin wird zeitgleich mit der Bundestagswahl ein neues Landesparlament gewählt. Die Spitzenkandidatin der Grünen, die Chancen auf den Chefsessel im „roten Rathaus“ hat, hat vorgeschlagen, die meistbefahrene Autobahn Deutschlands zurückzubauen.
Die Berliner Grünen haben eine „alte Bekannte“ als Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl im September aufgestellt: Bettina Jarasch, 52, ehemalige Landesvorsitzende mit bundespolitischer Erfahrung, wurde auf einem Landesparteitag ohne Gegenstimme auserkoren, als künftige Regierende Bürgermeisterin zu kandidieren.
Auf der Landesdelegiertenkonferenz am 20. März sagte Jarasch: „Was wir nun wirklich nicht brauchen in Berlin, ist eine Autobahn. Statt über den Weiterbau sollten wir vielleicht anfangen, über den Rückbau der A 100 zu reden.“ Das Boulevardblatt „BZ“ berichtet, man habe nachgehakt, was die Spitzenkandidatin damit meine. Antwort: „Ich meine damit, dass Berlin mit der A 100 vor vielen Jahrzehnten etwas begonnen hat, was im Jahr 2021 ganz klar ein Fehler ist. Innerstädtischer Raum ist heutzutage viel zu wertvoll, um ihn an eine Autobahn zu verschwenden.“
Die Empörung ließ nicht lange auf sich warten. Die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) widersprachen energisch und betonten, der Berliner Stadtring als meistbefahrene Autobahn bundesweit sei für die Berliner Wirtschaft und für die Versorgung von Millionen von Menschen„lebenswichtig“. Jaraschs Idee sei „aberwitzig“ und spreche nicht für ihre Wirtschaftskompetenz. Ein Grünen-Sprecher beeilte sich zu ergänzen, Jarasch hätte mit ihrem Rückbau-Vorschlag nicht die komplette A 100 gemeint, sondern lediglich den aktuell im Bau befindlichen 16. Bauabschnitt von Neukölln nach Alt-Treptow. Bei anderer Gelegenheit brachte Jarasch eine weitere Variante ins Spiel: „Vielleicht eine Fahrspur weniger, vielleicht eine gesicherte Radspur daneben“, zitiert die „BZ“ die Bürgermeister-Kandidatin.
Die Berliner Grünen hoffen für das Land Berlin auf eine Fortsetzung der Koalition aus SPD, Linke und Grünen, allerdings unter grüner Führung – was nach derzeitigen Umfragewerten im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. Nach ihren Vorstellungen hätte dann die Bundesregierung, die derzeit noch eine Umsetzung der vereinbarten Weiterbaupläne bis nach Lichtenberg anstrebt, anstelle von Andreas Scheuer einen grünen Verkehrsminister, der dem Rückbau oder zumindest dem Baustopp der A 100 zustimmen würde.
Verkehrsexperten wie Prof. Christian Otto von der Technischen Universität Berlin halten Jaraschs Rückbaupläne für „wenig realistisch“, wie die „Tageszeitung“ zitiert. Das Bundesverkehrsministerium antwortete dem Blatt auf eine Anfrage zu dem Thema, der aktuell im Bau befindliche 16. Bauabschnitt von Neukölln nach Alt-Treptow werde realisiert. Aufgrund des bestandskräftigen und damit unanfechtbaren Planfeststellungsbeschlusses „sind Ansprüche auf Unterlassung des Vorhabens, auf Beseitigung oder Änderung der Anlagen oder auf Unterlassung ihrer Benutzung ausgeschlossen.“
Die A 100 wird voraussichtlich 2024 Am Treptower Park enden. Die ursprünglich angepeilte Eröffnung 2022 fällt wegen Problemen im Baugrund an der Grenze von Neukölln nach Alt-Treptow ins Wasser. An der künftigen Unterquerung der Ringbahn ruht die Bautätigkeit momentan. Wenn der äußerst kostenintensive, vom Bund finanzierte 16. Bauabschnitt eröffnet wird, ist in Alt-Treptow mit extremen Verkehrsproblemen zu rechnen, nicht zuletzt wegen der im Abriss und Neubau begriffenen Elsenbrücke, die derzeit ein Nadelöhr darstellt, das schon jetzt täglich für Stau sorgt.
Die Fertigstellung der sechsspurigen Brücke wird erst für 2028 erwartet. Dass am künftigen Endpunkt der A 100 deshalb ein dramatisches Stauchaos droht, bestreitet in der Berliner Landespolitik kaum jemand, auch nicht die Grünen. Für sie, die weniger Autoverkehr in Berlin wollen, ist das ein Grund, die aktuelle Bautätigkeit in Frage zu stellen. Für alle anderen Parteien mit Ausnahme der Linken ist es dagegen ein Grund, das Planfeststellungsverfahren für den geplanten (noch teureren, aber ebenfalls vom Bund bereits finanzierten) 17. Bauabschnitt von Alt-Treptow nach Lichtenberg zügig in Angriff zu nehmen, da mit der Erschließung des Bereichs um die Kreuzung Gürtelstraße / Frankfurter Allee / Möllendorffstraße eine entscheidende, lange überfällige Anbindung der östlichen Innenstadt realisiert werden soll.
Ob der 17. Bauabschnitt jemals Wirklichkeit wird, ist offen. Sollte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer abgewählt werden, so könnte er den Weiterbau der A 100 dennoch rechtzeitig auf den Weg bringen. Der Berliner CDU-Verkehrsexperte Oliver Friederici sagte letztes Jahr in einem Taxi-Times-Interview, es gebe trotz des Widerstandes der rot-rot-grünen Landesregierung eine Möglichkeit, den Abschnitt umzusetzen: „Die Koalition aus CDU, CSU und übrigens auch SPD im Bund hat ja, um die Länder zu entlasten, die Bundesbaugesellschaft zur Errichtung von Bauten des Autobahnbaus gegründet, so dass die Länder nicht mehr die Hoheit haben, Autobahnen zu planen und zu bauen.“ Sollte der Senat sich weiter verweigern, „kann es durchaus passieren, dass Bundesverkehrsminister Scheuer – der ja für viele Sachen gescholten wird, aber in diesem Fall klar seine Position hat, die A 100 weiter zu bauen – in der Lage ist, dann zu planen und den 17. Bauabschnitt zu bauen.“ ar
Beitragsbild: A 100, 16. Bauabschnitt im Rohbau, Berlin-Neukölln, links im Bild das Hotel Estrel, größtes Hotel Europas. Foto: Axel Rühle
Die Fahrradfahrer brauchen doch auch ihren Platz.