Annemarie Renger war die erste weibliche Bundestagspräsidentin, was 1972 eine kleine Sensation war. Kurz nach ihrem 101. Geburtstag ist im Berliner Regierungsviertel eine Straße nach ihr benannt worden.
Die knapp 300 Meter lange Umfahrung des Bundeskanzleramts und der Schweizer Botschaft, die in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre als Ersatz für die zurückgebaute Moltkestraße angelegt worden war, besteht seit Sommer 2019, als die Verbindungskurve zur Willy-Brandt-Straße dem Erdboden gleich gemacht wurde, nur noch zur Hälfte. Der verbliebene südliche Abschnitt hat dieses Jahr den Namen Annemarie-Renger-Straße erhalten. Die Politikerin wirkte trotz mehrerer schwerer Schicksalsschläge entschlossen am Aufbau der durch die Nazis zerstörten Demokratie in Deutschland mit.
Die im Oktober 1919 in Leipzig geborene Annemarie Wildung entstammt einer sozialdemokratischen Familie. Annemarie hat schon als Schülerin die klare Vorstellung eines demokratischen Staats – von dem Deutschland damals kaum weiter entfernt sein könnte. Das Abitur verwehren die Nationalsozialisten der Sozialdemokratin. Bei ihrer ersten Hochzeit 1938 nimmt sie den Namen Renger an und bekommt im selben Jahr ihren Sohn. Drei ihrer vier Brüder sterben im Zweiten Weltkrieg. Mit 26 wird die Verlagskauffrau erstmals Witwe, als auch Emil Renger 1944 in Frankreich fällt.
Gegen Kriegsende ist Renger von einer Rede Kurt Schumachers so beeindruckt, dass sie ihm einen Brief schreibt, mit dem sie ihn überzeugt, sie als persönliche Mitarbeiterin einzustellen. Noch 1945 tritt sie der SPD bei und wird bald die engste Vertraute des 25 Jahre älteren Schumacher. Sie bewundert den unbeugsamen Nazigegner, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hat und fast zehn Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen ist, für seine Willensstärke. Er arbeitet bereits daran, ihre demokratischen Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Nachdem Schumacher, dem 1948 auch noch ein Bein amputiert wird, 1952 stirbt, entschließt die selbstbewusste Renger sich, selbst in die erste Reihe zu wechseln, lässt sich 1953 in den Bundestag wählen und rückt schrittweise in die Führungsriege der SPD vor. 1965 heiratet sie erneut, behält diesmal aber ihren Nachnamen. Nach ihrem 1954 gestorbenen Vater, dem Politiker und Sportfunktionär Fritz Wildung, wird 1968 die Zufahrtsstraße zum heutigen Horst-Dohm-Eisstadion in Schmargendorf benannt.
1969 gewinnt die SPD unter Willy Brandt erstmals die Bundestagswahl. Nach dem erneuten Wahlsieg 1972 kandidiert Renger als Bundestagspräsidentin. Damals gehört es noch zum guten Ton, einer Frau so etwas nicht zuzutrauen, doch sie bekleidet von da an das zweithöchste Amt im Staat, protokollarisch über dem Bundeskanzler stehend. 1973 stirbt ihr zweiter Ehemann, und Renger ist mit 53 zum zweiten Mal Witwe. Bis 1976 ist sie Präsidentin und danach Vizepräsidentin des Parlaments in Bonn. 1979 stellt sie sich zur Wahl als Bundespräsidentin, unterliegt aber Carl Carstens. Renger engagiert sich neben ihrer Bundestagskarriere auch in etlichen gemeinnützigen, humanitären und politischen Organisationen. Bis zu Ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 1990 bleibt sie dessen Vizepräsidentin. Später sagt sie: „Ich habe erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann.“
1998 muss Annemarie Renger ihren 60-jährigen Sohn Rolf zu Grabe tragen. Sie lebt mit ihrer Enkeltochter, deren Ehemann und zwei Urenkeln unter einem Dach im Rheinland-Pfälzischen Remagen. 2008 stirbt Annemarie Renger mit 88 Jahren nach langer Krankheit im Kreis ihrer Familie.
Aus Anlass ihres 100. Geburtstages veröffentlichte die Post im Oktober 2019 eine Sonderbriefmarke zu Ehren Rengers, und die bis dato unbenannte Straße nahe dem Bundestag in Berlin-Tiergarten erhielt (mit einjähriger Verspätung) ihren Namen. Sie ist mit rund 150 Metern ebenso kurz wie die benachbarte Willy-Brandt-Straße und die Konrad-Adenauer Straße. ar