Wenn eine Fahrbahn enger wird, gibt es häufig Gedränge, und oft ist den meisten Beteiligten unklar, wer was darf, muss oder nicht darf. Für einen Fall hat der Bundesgerichtshof jetzt ein Urteil gefällt.
Bietet eine Fahrbahn erst Platz für mehrere Fahrzeuge nebeneinander und verengt sich dann, so dass ein Stück weiter nicht mehr so viele Fahrzeuge nebeneinander passen, so kann durch unterschiedliche Schilder und Fahrstreifen angezeigt werden, wer wen vorzulassen oder hereinzulassen hat.
Wie aber ist die Regel, wenn beispielsweise aus zwei Fahrspuren eine wird, ohne dass explizit eine von beiden endet und die andere sich fortsetzt? Diese Frage hat der Bundesgerichtshof (BGH) am 8. März beantwortet: Hier hat niemand „Vorfahrt“, sondern man muss sich ggf. mit dem Fahrer im Fahrzeug neben sich verständigen. „Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht“, entschied der BGH.
Es war der Abschluss in einem Verfahren zu einem Unfall, der sich 2018 in Hamburg ereignet hatte. Insbesondere hat nicht das rechte der beiden Fahrzeuge Vorfahrt, wie es gelegentlich aufgrund einer falschen Auslegung der Redewendung „rechts vor links“ vermutet wird. Stattdessen gelte das gut gemeinte „Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme“. Die Entscheidung wurde am Montag veröffentlicht (Aktenzeichen VI ZR 47/21).
Bei dem Unfall war ein Auto rechts neben einem Lastwagen unterwegs. Kurz hinter einer Kreuzung wurde die Straße einspurig, was in Hamburg an vielen Stellen gut sichtbar auf der Fahrbahn mit dem Zeichen für „beidseitige Fahrbahnverengung“ markiert ist, so auch an der Unfallstelle. Zu allem Unglück sah der Fahrer des Lkw den Pkw rechts neben sich nicht und zog nach rechts. Die Pkw-Fahrerin ging wiederum davon aus, dass sie Vorrang habe und der Lkw sich hinter ihr einordnen müsse. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Da die Eigentümerin des Pkw den Schaden nicht teilen wollte, landete der Fall beim Gericht.
Nach dem BGH-Urteil traf die Pkw-Fahrerin eine Mitschuld: Im Unterschied zur „einseitig verengten Fahrbahn“ ende hier nicht ein Fahrstreifen, „sondern beide Fahrstreifen werden in einen Fahrstreifen überführt“. Daraus resultiert eine „erhöhte Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer“, so das Gericht. „Gelingt die Verständigung nicht, sind sie dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen.“ Am Zeichen 120 „Verengte Fahrbahn“ spielt es demnach für die Reihenfolge des Einfädelns keine Rolle, wer rechts fährt und wer links.
Somit ist an einer solchen Stelle auch nicht, wie bei einseitigen Verengungen, das Reisßverschlussverfahren vorgeschrieben. In Paragraph 7 der Straßenverkehrsordnung (StVO) „Benutzung von Fahrstreifen durch Kraftfahrzeuge“ ist nämlich in Absatz 4 nur von Fällen die Rede, in denen ein bestimmter Fahrstreifen endet: „Ist auf Straßen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder endet ein Fahrstreifen, ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können (Reißverschlussverfahren).“ Somit kann der Richterspruch des BGH wie eine Präzisierung geltenden Rechts gesehen werden. Einige Medien sprechen sogar von einer „neuen Vorfahrtregel“.
Die Redewendung „rechts vor links“, die – im völligen Unterschied zur hier behandelten Problematik – die Vorfahrtregel für unbeschilderte Kreuzungen zusammenfasst, kann dennoch auf eine andere Situation angewendet werden, die nichts mit Kreuzungen zu tun hat: Sind z. B. auf einer dreispurigen Autobahn zwei Fahrzeuge parallel unterwegs, eines auf der rechten und eines auf der linken Spur, und beide wollen auf gleicher Höhe in dieselbe Lücke auf der mittleren Spur wechseln, so hat das von der rechten Spur einscherende Fahrzeug Vorrang vor dem von der linken Spur kommenden, so dass man auch hier von „rechts vor links“ sprechen kann. Die Logik dahinter ist leicht nachvollziehbar: Wenn alle sich an die Regeln halten (und die Autobahn nicht gerade voll ist), muss das Fahrzeug auf der linken Spur mit deutlich höhrer Geschwindigkeit unterwegs sein als das auf der rechten. Folglich kann der Fahrer, der von der rechten Spur auf die mittlere wechselt, das Fahrzeug auf der linken Spur nur schlecht sehen, da es von links hinten kommt. Der schnellere Fahrer auf der linken Spur kann aber das Fahrzeug, das von der rechten Spur auf die mittlere wechselt, gut sehen, da es vor ihm war. Deshalb muss er Rücksicht nehmen und ggf. auf seinen Spurwechsel zunächst verzichten. ar
Beitragsbild: An diesen Zeichen gibt es in der Regel einen „Vorfahrtberechtigten“. Collage: Axel Rühle