Am Sonntag wird im Bundesland Berlin die Wahl des Abgeordnetenhauses wiederholt. Der Grund ist typisch für die Bundeshauptstadt: Behördenversagen.
Mit der Verkehrssituation in Berlin ist nur jeder neunte Berliner zufrieden. Laut einer Forsa-Umfrage, über die die Berliner Zeitung am 7. Februar berichtete, finden 88 Prozent der wahlberechtigten Berlinerinnen und Berliner die Verkehrssituation in ihrer Stadt „weniger gut“ oder „schlecht“ und nur elf Prozent „gut“ oder „sehr gut“.
Ein Ort, der exemplarisch für die Diskrepanz aus politischem Handeln und Willen der Mehrheit steht, ist die Friedrichstraße. Die grüne Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, die nach der Wahl den Chefsessel im „roten“ Rathaus anstrebt, also die jetzige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) beerben möchte, hat das Projekt „autofreie Friedrichstraße“ im Sinne ihrer Vorgängerin Regine Günther weiterverfolgt und musste eine Niederlage hinnehmen: Nachdem ein Aktionsbündnis aus betroffenen Gewerbetreibenden, die nach der Sperrung des Abschnittes zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße für den Kraftverkehr zum Teil erhebliche Umsatzeinbußen verzeichneten, gegen die Maßnahme geklagt hatten, befand das Verwaltungsgericht die Sperrung letzten Herbst, also nach gut zwei Jahren, für rechtswidrig.
Doch weder vom Gerichtsurteil noch vom dokumentierten Willen der Bevölkerung lässt Jarasch sich beeindrucken: Berlin, eine Stadt mit sehr wenigen Fußgängerzonen, soll nach Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen nicht nur eine Stadt ohne Verbrennermotoren im Innenbereich werden, sondern auch mehr Fußgängerzonen haben, angefangen mit besagtem Abschnitt der Friedrichstraße. Jarasch hat den Straßenabschnitt kürzlich erneut sperren lassen. Die Ablehnung ist groß: Im Zuge der genannten Umfrage wurde auch die Meinung zur „autofreien Friedrichstraße“ abgefragt, und das gekoppelt mit der Anhängerschaft zu den Parteien im Abgeordnetenhaus. Das Ergebnis: Die einzige Partei, deren Anhänger sich mit großer Mehrheit (85 % zu 5 %) für die Maßnahme aussprechen, sind die Grünen. Eine knappe Mehrheit (45 % zu 43 %) besteht noch bei den Wählern des kleinen Koalitionspartners Die Linke. Die Wähler aller anderen Parteien einschließlich des gleichgroßen Koalitionspartners SPD lehnen die Sperrung mehrheitlich ab, am deutlichsten bei CDU (8 % zu 89 %) und FDP (9 zu 90 %). Insgesamt lehnen 52 Prozent die Sperrung ab und immerhin 37 Prozent befürworten sie laut der Umfrage.
Zu den verkehrspolitischen Vorhaben, insbesondere in Bezug auf das Taxigewerbe, befragte die Berliner Taxi-„Innung“ in den letzten Wochen Verkehrspolitiker von vier der sechs Parteien im Abgeordnetenhaus. Die Grünen wollten aus Zeitgründen nicht antworten, die AfD wollte die „Innung“ nicht fragen. So gab es Antworten von den verkehrspolitischen Sprechern von FDP, CDU, SPD und Die Linke.
Felix Reifschneider (FDP) sagte, da die Straßen nicht leistungsfähig genug seien, brauche man Straßen mit ausreichender Kapazität, etwa die A 100, einen Ausbau des schienengebundenen ÖPNV, auch in die Außenbereiche und in das Umland für Pendler. Zudem brauche Berlin leistungsfähige, gut ausgebaute und geschützte Radwege.
Was die Koalition aus SPD, Grünen und Linke in den letzten sechs Jahren geleistet hat, reiche nicht: Überall gebe es nur Stop and go, Baustelle „oder sogar die Rolle rückwärts.“ Reifschneider habe sich für ein uneingeschränktes Laderecht am BER und für einen einheitlichen Taxitarif ausgesprochen. Es sei eine „Posse, dass der Senat jetzt über ein Jahr gebraucht hat, einen neuen Taxitarif auf den Weg zu bringen“.
Ein nachfrageorientiertes Angebot mit Mobilitätsgarantie beinhalte Taxifahrten im Auftrag öffentlicher Verkehrsanbieter. Das sei durch ÖPNV-Mittel finanzierbar, wobei auch Regionalisierungsmittel eine Rolle spielen.
Stephan Machulik (SPD) ist noch nie ein großer Freund einer weitgehenden Liberalisierung der Personenbeförderung gewesen. Man habe sehen müssen, dass darunter besonders das Taxigewerbe leide. Hier bringe Konkurrenz keinen besseren Service, sondern ein „Absterben“ des Taxigewerbes. Werde nicht gegengesteuert, so finde man statt Hellelfenbein irgendwann „nur noch irgendwelche Privaten, die sich an gar nichts halten“. Man müsse sehen, „wie wir das Taxigewerbe wieder nach oben bekommen“, beispielsweise als Teil des ÖPNV als Dienstleister für die „letzte Meile“.
Zum Thema Uber-Files sagte Machulik, man könne nicht mehr zulassen, „dass Uber sagt, wir sind hier nur die Plattform, wir vermitteln nur“, und „das untere ist das unternehmerische Risiko und auch die unternehmerische Verantwortung“. Die Frage sei, ob man einer Plattform, die das ermöglicht, freien Lauf lassen und als Staat nur die Rahmenbedingungen schaffen könne.
Oliver Friederici (CDU) fordert, „dass wir in der Verkehrspolitik nicht mehr gegeneinander arbeiten, sondern miteinander“. Man müsse „alle Verkehre denken“ und „alles ausbauen, auch den Radverkehr, den ÖPNV … auch der Taxiverkehr muss zu seinem Recht kommen.“ Neben dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs müsse man die A 100 wie vereinbart verlängern und die TVO sowie die TV Nord bauen. Berlin sei eine wachsende Stadt mit entsprechend steigenden Kfz-Zulassungszahlen. Den daraus resultierenden Aufgaben müsse man sich „konzentriert widmen“ und folglich müsse man alle Verkehrsarten ausbauen.
Der „Einstieg der sogenannten Fahrdienstleister, die eigentlich Taxi-Dienste anbieten“, tue ihm „sehr weh“. In New York gebe es fast keine Taxen mehr. Wenn man einen breiten Markt wolle, dann brauche man das Berliner Taxigewerbe sehr deutlich weiterhin.“ Zudem sei es „die Basis der Personenbeförderung“ für ältere, mobilitätseingeschränkte Personen, „auch für die Krankentransporte, die ja immer mehr werden, denn unsere Bevölkerung wird immer älter.“
Zum Flughafen-Thema wiederholte Friederici, die Grünen hätten „völlig versagt“ und es versäumt, „die klare Position Berlins zum Ausdruck zu bringen“. Da von den Taxifahrten vom und zum BER 80 Prozent von/nach Berlin führen, aber nur ein geringer Teil der Berliner Taxis dort aufstellberechtigt ist, müsse die Vereinbarung neu verhandelt werden. Eine Lösung sieht er analog zu den zwei Taxispuren am Flughafen Barcelona: „Wer nach Berlin will, fährt mit einem Fahrzeug mit B-Kennzeichen“, zu anderen Fahrzielen gehe es mit einem anderen Taxi – „eine ganz einfache Regelung“. Hier müssten die Verhandlungen mit Brandenburg knallhart geführt werden, schließlich lebe der Flughafen zu 65 Prozent von den Fluggästen aus Berlin.
Kristian Ronneburg (Die Linke) erklärte, man habe im Koalitionsvertrag festgeschrieben, die Möglichkeiten des novellierten PBefG „im Sinne des Taxigewerbes maximal“ nutzen zu wollen. Eine große Aufgabe für dieses Jahr bestehe folglich darin, sich die „neuen Möglichkeiten des PBefG“ (gültig seit Anfang August 2021) zu erschließen, rechtliche Expertise einzuholen und „da sehr ambitioniert ranzugehen“ – in Kooperation mit den Verbänden.
Bei der Tarifgestaltung müsse man „mehr Zug reinbekommen“, um sich „Hängepartien“ wie in letzter Zeit nicht mehr zu leisten. Das Thema Taxi als Ergänzung für den ÖPNV bezeichnete Ronneburg als „Großbaustelle“. Für die „letzte Meile“ in unterversorgten Gebieten müsse man den Nahverkehr gemeinsam mit dem Taxigewerbe gut entwickeln.
Beim Thema Mietwagenschwemme und 25-Prozent-Marke hält Ronneburg es für eine wichtige Voraussetzung, sich „eine gute, gesicherte Datengrundlage zu schaffen“, um rechtssicher zu agieren.
Zum Laderecht am Flughafen BER für alle Berliner Taxen meint Ronneburg, die sich aus der derzeitigen Regelung ergebenden Leerfahrten seien aus ökologischer, ökonomischer und verkehrlicher Perspektive „natürlich ganz großer Unsinn“. Die Linke habe gegenüber dem Senat „immer wieder insistiert“, es zu einem gemeinsamen Thema mit dem Land Brandenburg zu machen. Es könne nicht sein, dass ein funktionierender Taxiverkehr am Flughafen vom Wohlwollen eines Landrates abhänge. Im zweiten Schritt müsse „gleiches Recht für alle“ geschaffen werden, d. h. Fiskaltaxameter für LDS-Taxen. Es müsse ein „Geben und Nehmen zwischen beiden Ländern“ geben.
Ronneburgs Ideen klingen aus Sicht des Taxigewerbes vernünftig, doch für die Verkehrspolitik im noch amtierenden Senat ist der grüne Koalitionspartner zuständig, und mit dessen Verkehrssenatorin sind die Berliner wie eingangs erwähnt derzeit überwiegend unzufrieden. So verwundert es nicht, dass die oppositionelle CDU nach derzeitigen Umfragen den höchsten Zuspruch in der Wählerschaft hat (25 %), während die Zustimmung für die Grünen, die lange Zeit mit Abstand auf dem ersten Platz lagen, deutlich nachgelassen hat (18 %). Die SPD liegt bei 19 %, die Linke bei 12 %, die AfD bei 10 % und die FDP bei 6 % (INSA-Umfrage vom 9.2., Quelle: Berliner Morgenpost). Es ergibt sich ein Anteil von 10 % für die „sonstigen“ Parteien einschließlich der Piraten.
Wäre dies das Wahlergebnis, so ergeben sich – nach Abzug der „Sonstigen“ – rechnerisch zwei realistische Koalitionsmöglichkeiten: die bisherige Koalition aus SPD, Grünen und Linke mit 54,4 Prozent der Stimmen oder eine neue Koalition aus CDU, SPD und FDP mit 55,6 Prozent der Stimmen. Keine Zweierkoalition käme auf eine absolute Mehrheit, sogar CDU und SPD würden zusammen die 50 Prozent knapp verfehlen (was in anderen Umfragen allerdings anders aussieht). Auch eine Koalition wie auf Bundesebene, also SPD mit Grünen und FDP, bliebe auf der Berliner Landesebene mit zusammen 47,8 Prozent unterhalb der absoluten Mehrheit, wenn das Wahlergebnis der genannten Umfrage entspräche.
Sollte es in etwa so kommen, so wäre eine Fortsetzung der derzeitigen Koalition sehr wahrscheinlich, denn nur dann würde Franziska Giffey als Spitzenkandidatin der stärksten Regierungspartei Regierende Bürgermeisterin bleiben. Würde sie sich stattdessen für eine Koalition mit der CDU und der FDP entscheiden, was aufgrund der zuletzt sichtbaren Unzufriedenheit mit ihren bisherigen Koalitionspartnern ebenfalls in Frage käme, müsste sie den Chefsessel allerdings CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner als Chef der stärksten aller Parteien überlassen. Dies dürfte ihr nur dann leichtfallen, wenn die Grünen doch noch ein paar Stimmen mehr bekämen als die SPD. Dann müsste die SPD sich nämlich entscheiden, ob sie künftig als Nummer Zwei lieber an der Seite der CDU unter Kai Wegner mitregieren möchte oder eher mit den Grünen unter Bettina Jarasch (und der Linken). Diese Entscheidung könnte schon eher zu Gunsten eines Wechsels ausfallen. ar
Beitragsfoto: Berliner Rathaus, im Volksmund „rotes Rathaus“. Foto: Axel Rühle