Wer Taxi fährt, will naturgemäß zügig vorwärts kommen, denn Zeit ist Geld. Straßenverkehr ist für uns so normale Routine, dass wir viele Risiken und Regeln gar nicht sehen.
Wie sieht das strengste Vorfahrtzeichen im deutschen Schilderwald aus? Blau, viereckig und ziemlich harmlos – eine böse Täuschung.
Der verkehrsberuhigte Bereich ist ein Klassiker beim Missachten von Verkehrsregeln. Er wird im Volksmund auch Spielstraße genannt, doch das ist per Definition etwas anderes. Für viele ist das blaue Schild „Beginn eines Verkehrsberuhigten Bereichs“ (Zeichen 325.1) gleichbedeutend mit einem Tempolimit auf 10, 20, 30 (oder je nach Mentalität auch 60) km/h, da sind sich viele offensichtlich gar nicht ganz sicher.
Die bildliche Darstellung ist nicht als heile Welt zum Nettsein gemeint (das wäre das Schild „Begegnungszone“, das es in einigen Städten gibt), sondern sollte ernstgenommen werden: Auf dem Schild ist ein Kind zu sehen, das einem Ball hinterherläuft. Der verkehrsberuhigte Bereich ist dafür da, dass Kinder (und Erwachsene) auf die Straße laufen können und dürfen, ohne auf den Verkehr zu achten. Es ist eine Fehlannahme, dass man bei Tempo 30 eine Chance hat, rechtzeitig anzuhalten, wenn fünf Meter vor einem plötzlich ein Kind auf die Straße läuft – wobei der Begriff Straße im verkehrsberuhigten Bereich gar nicht mehr die Gültigkeit hat wie auf anderen Straßen: Hier haben Kfz keinen generellen Vorrang vor Fußgängern. Zwar dürfen Personen nicht unnötig Fahrzeuge ausbremsen, doch die vermeintliche Fahrbahn ist ebenso zum Gehen zugelassen wie die Gehsteige.
Die sogenannte Schrittgeschwindigkeit, die in verkehrsberuhigten Bereichen als zulässige Höchstgeschwindigkeit gilt, ist nicht per Zahl definiert. Je nach Autor und Richter wird sie im deutschsprachigen Raum zwischen 1 m/s (3,6 km/h) und 20 km/h angenommen. In der deutschen Rechtsprechung haben sich 7 km/h weitgehend durchgesetzt – ein relativ sportliches Tempo für einen schreitenden Menschen. Damals war der durchschnittliche Fußgänger noch nicht so sehr von Fast-Food und Smartphones verlangsamt.
Parken ist in verkehrsberuhigten Bereichen nur auf markierten Flächen erlaubt, wobei es Städte geben soll, in denen Autofahrern die Untätigkeit von Behörden manchmal auch zugute kommt. Interessanter ist das Thema Überholen: Da Überholen generell nur mit „wesentlich höherer Geschwindigkeit“ erlaubt ist (§5 Abs. 2), ist es im verkehrsberuhigten Bereich laut Rechtsprechung ausgeschlossen. Logisch: Mit 7 km/h „wesentlich“ schneller – da müsste der andere rein rechnerisch schon recht flott im Rückwärtsgang unterwegs sein. Doch seien wir ehrlich: In verkehrsberuhigten Bereichen wird meist zwischen 20 und 40 km/h gefahren und häufig überholt, weniger von Autos als von Moped-, Roller- und Radfahrern. „Nicht so schlimm“, denkt man sich, falls man überhaupt einen Gedanken verschwendet. Wie schlimm ist „ein bisschen schneller“ wirklich?
Hier lohnt sich ein kleiner Exkurs in die Fahrschule: Vor Ihrem Fahrzeug tritt plötzlich eine Gefahr auf, die eine Notbremsung erfordert. Der „Reaktionsweg“ ist die zurückgelegte Strecke im Zeitraum vom Sehen der Gefahr über die Reaktion des Gehirns bis zum „wuchtigen Reintrampeln“ in das Bremspedal. Das dauert bei nüchternen Fahrern im Allgemeinen eine knappe Sekunde. Bei 50 km/h legt man in einer Sekunde über 13 Meter zurück, bei Schritttempo zwei Meter. Der „Bremsweg“ ist die Strecke, die man vom Einsetzen der Bremswirkung bis zum Stillstand des Fahrzeugs zurücklegt (er steigt nicht proportional zur Geschwindigkeit, sondern perfiderweise exponentiell). Beides zusammengerechnet ergibt den „Anhalteweg“. Die Tabelle zeigt: Wenn Sie 10 km/h fahren, hat das Kind, das unaufmerksam auf die Straße läuft, noch eine recht hohe Überlebenschance, zumindest bei ebener, trockener, griffiger Fahrbahn. Bei 30 km/h und einem Anhalteweg von über zwölf Metern bringen Sie das Kind wahrscheinlich um.
Geschwindigkeit | Anhalteweg bei Notbremsung |
Schritttempo 7 km/h |
2,20 m |
10 km/h | 3,30 m |
20 km/h | 7,60 m |
30 km/h | 12,80 m |
50 km/h | 26,40 m |
70 km/h | 43,90 m |
Auch der Unterschied zwischen 50 km/h und 70 km/h, die man in der Eile auf Hauptverkehrsstraßen mit dem Taxi schnell mal erreicht, ist immens. Schon mancher Unfallverursacher musste sich vom Richter sagen lassen: „Wären Sie 50 km/h gefahren, würde der Fußgänger noch leben. Da Sie aber fast 70 gefahren sind, haben Sie ihn fahrlässig getötet.“ Wer möchte mit einer solchen Schuld leben?
Verkehrsberuhigte Bereiche sind mal 50, mal 250 Meter lang. Fährt man eine Strecke von 250 Metern mit 30 km/h statt mit 7 km/h, so spart man knapp 99 Sekunden. Hand aufs Herz: Sind 99 Sekunden Ersparnis es wert, eventuell ein Leben auszulöschen? Nein. Verkehrsberuhigte Bereiche sind Stellen, an denen man wenig entbehren muss, um einen Beitrag zu einer geringeren Zahl von Verkehrstoten zu leisten. Besser zwei Minuten später beim Essen als den Ärger mit der Leiche.
Unter psychologischen Gesichtspunkten ist das blaue Schild gründlich misslungen. Blau und aufgelockert, da werden keine Alarmsensoren im Autofahrergehirn angesprochen, die zu instinktiv vorsichtigem Verhalten mahnen. So läuft schlechte Kommunikation ab in einer Gesellschaft, die unter Reizüberflutung leidet und bemüht ist, den Schilderwald zu lichten.
Noch schlechter wurde und wird die vorfahrtregelnde Wirkung des Zeichen-Pärchens 325.1 (Beginn) und 325.2 (Ende eines verkehrsberuhigten Bereichs) kommuniziert. Fragt man Autofahrer, welche Vorfahrtregeln am Anfang bzw. Ende eines verkehrsberuhigten Bereichs gelten, so tippt ein erheblicher Teil auf „Rechts vor Links“ – ein gefährlicher und weit verbreiteter Irrtum. Das Verlassen eines verkehrsberuhigten Bereichs entspricht der Ausfahrt aus einem Privatgrundstück. Ein beliebter Satzanfang in so mancher Schulung lautet: „Wenn ihr mal vorne rechts einen neuen Kotflügel braucht …“. Hier haben die Erfinder des Schildes in den späten 1970er-Jahren anscheinend zu wenig mitgedacht: Ist man auf einer nicht vorfahrtberechtigten Straße unterwegs, so sieht man an einer Kreuzung oder Einmündung oft erst sehr spät, dass die Querstraße ein verkehrsberuhigter Bereich ist und man niemandem die Vorfahrt gewähren muss, denn es fehlen die Vorfahrtschilder in der nicht verkehrsberuhigten Straße.
Wer den verkehrsberuhigten Bereich verlässt, muss allen anderen die Vorfahrt lassen, egal, ob sie von rechts kommen oder von links. Selbst die, die entgegenkommen und links abbiegen oder wenden, haben Vorfahrt, wenn man einen verkehrsberuhigten Bereich verlässt. Das blaue Schild ist eines der strengsten und zugleich am häufigsten missachteten Vorfahrtschilder im deutschen Straßenverkehr. ar
Verkehrszeichen: Straßenverkehrsordnung
Vielen, vielen Dank für diesen Exkurs!
Leider werden die Kollegen, die es nötig hätten, wohl gar keinen Blick darauf werfen. Das Desinteresse an geltendem (Verkehrs-)Recht nimmt leider auch in unserem Gewerbe ständig zu 🙁
Toller Bericht! Besonders der Hinweis, dass es eben keine Spielstraße ist, was aber eben besonders viele Fahrgäste glauben, die in einer verkehrsberuhigten Zone wohnen. So ist vielen nicht bewusst, was es für Konsequenzen hat, wenn sie in einer Spielstraße wohnen würden…als Taxifahrer dürfte ich sie niemals vor ihrer Haustür absetzen.
Fun fact: So las ich kürzlich in einer Taxipublikation dass durch stationäre Messeanlagen auch in Spielstraßen geblitzt werden würde. Das erschien mir schon damals fragwürdig. Denn warum sollte man in einer Spielstraße blitzen?! Sowas macht keine Kommune. Selbst Fahrräder müssen dort geschoben werden.