Nach dem gestrigen fröhlichen Rocksong birgt der musikalische Adventskalender heute etwas Besinnliches, Melancholisches mit Tiefgang.
Nachdem wir gestern ein typisches Lied aus Fahrgastsicht hatten, befindet der Sänger sich heute in der Fahrerrolle. Da der Text zeitlos ist, erscheint es nebensächlich, dass der Urheber des Liedes schon über 40 Jahre tot ist. Tragisch ist, dass der amerikanische Liedermacher und Regisseur Harry Chapin nur 39 Jahre alt wurde. Er wurde heute vor 80 Jahren in New York City geboren und fand als Musikersohn schnell selbst zur Musik, wobei er in seinen Liedern oft tiefgründige Geschichten über Menschen erzählte, die Enttäuschungen erleben oder deren Leben sich in eine Richtung entwickelt hat, die nicht gewollt war. Er empfand als erfolgreicher Musiker eine „Verpflichtung, anderen etwas zurückzugeben“. Sein Traum war es, den Welthunger zu beenden.
In seinem Lied „Taxi“ von 1972 erzählt ein gescheiterter Mann, der sich als Taxifahrer in San Francisco über Wasser hält und Drogen nimmt, wie eine Frau ihn heranwinkt, die offensichtlich auf einer besseren Seite des Lebens steht, aber auch nicht glücklich wirkt, und die er zu kennen glaubt. Das spricht er vorsichtig an, doch sie streitet es entschieden ab.
Als sie aber auf seiner Fahrerkarte seinen Namen liest, sieht er kurz ein leichtes, trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht, und beiden ist klar, dass sie in ihrer Jugendzeit einmal ineinander verliebt waren und erste, zarte Liebeserfahrungen miteinander machten. „Wie geht’s dir, Harry?“ – „Und dir, Sue?“ Damals wollte sie einmal Filmrollen spielen, er wollte einmal fliegen. Obwohl das eine Ewigkeit her ist, keimt von ihrer Seite aus kurz die Idee auf, durch ein Anknüpfen an diese unbeschwerte Vergangenheit doch noch einen besseren Weg einzuschlagen oder zumindest kurz ein Stück des damaligen Zaubers zurückzuholen.
Ihm ist aber bewusst, dass das nichts als ein flüchtiger Traum ist, da beide sich nach all den Jahren dem Sterben näher fühlen als ihrer unbeschwerten Jugend. Als er sie an ihrem Haus mit gepflegtem Rasen absetzt, gibt sie ihm ein Trinkgeld in Höhe des siebenfachen Fahrpreises. Manch einer hätte wütend reagiert, ein anderer wäre verletzt gewesen, ein dritter hätte sie „niemals gehen lassen“, sinniert der Fahrer in dem Lied, aber er steckt den Geldschein schweigend ein und denkt sich: Damals bekamen wir beide das, was wir uns wünschten. Aus ihrem Traum vom Schauspielen ist nur übrig geblieben, dass sie heute in ihrer heilen Welt eine glückliche Frau spielen muss, und von meinem Traum vom Fliegen ist nur geblieben, dass ich fliege, wenn ich stoned bin.
Harry Chapin starb 1981 im Krankenhaus, kurz nachdem ein Lkw auf sein Auto aufgefahren war. Die Ärzte stellten aber als Todesursache einen Herzinfarkt fest. Ob dieser kurz vor oder kurz nach dem Unfall eingetreten war, konnte nicht mehr ermittelt werden.
Bewegend ist ein Hörerkommentar unter dem Video: „Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was dieses Lied für mich bedeutet. Als ich es zum ersten Mal hörte, erinnere ich mich, dass ich die Frau im fallenden Regen stehen sah. Die Geige wird so gezupft, dass man fast die Regentropfen spürt. Dieses Lied ist ein Film im Kopf. Seine lyrische Beschreibung ist so kraftvoll, dass man sie nicht nur hört, sondern sieht. Erzählt aus der Perspektive eines Mannes – einige von uns haben ein Mädchen aus unserer Vergangenheit, das uns verfolgt. Die meisten von ihnen werden es nie erfahren. Aber in diesem Song sieht es so aus, als hätten sie beide bekommen, ‚was sie wollten’. Danke Harry, das war ein Meisterwerk, vielleicht unerreicht.“
Um Chapin und sein Lied nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, haben in den letzten Jahren gleich mehrere Musiker die Ballade durch Cover-Versionen zu neuem Leben erweckt.
Eine davon ist die 61-jährige amerikanische Liedermacherin und Rocksängerin Meslissa Etheridge, die nach einer überstandenen Krebserkrankung ebenfalls manche Schattenseite des Lebens kennt. Sie machte aus der Not der Corona-Krise eine Tugend und spielt alleine Cover-Versionen von Liedern ein, die ihr am Herzen liegen, und dazu gehört auch „Taxi“ von Harry Chapin. Sie brauchte dabei den weiblichen Fahrgast nicht umständlich in einen männlichen umzutexten, da sie kein Geheimnis daraus macht, seit jeher Liebesbeziehungen zu Frauen zu haben, und in ihrer Version auch explizit und, wie man im Video sieht, mit einem wissenden Lächeln singt: „Hallo Sue, ich bin Melissa.“
Eine kuriose Geschichte liegt der ebenfalls recht neuen Coverversion eines anderen Musikers zugrunde: Ein junger Projektmanager, der viel Zeit in Flugzeugen verbrachte, saß Anfang der 1980er-Jahre einmal neben einem Mann, mit dem er sich sehr nett unterhielt, und der Harry Chapin zum Verwechseln ähnelte. Als er ihn nach einer Dreiviertelstunde fragte, ob ihn schon einmal jemand darauf aufmerksam gemacht hätte, dass er wie Harry Chapin aussah, den er sehr für dessen humanitäres Engagement bewundere, entgegnete dieser, ja, das höre er die ganze Zeit, denn sein Name sei Harry Chapin. Der Manager war sprachlos. Etwas später sei das Flugzeug in schwere Turbulenzen geraten. Während der Manager kreidebleich wurde, sei Harry Chapin völlig entspannt geblieben, habe tröstend die Hand auf sein Knie gelegt und gesagt, „dass wir hier oben viel sicherer sind als dort unten“. Einen Monat später war Harry Chapin tot. Diese Geschichte beschreibt John Vento, der damalige Manager, der heute Musiker ist, unter dem Video seiner Coverversion von „Taxi“.
Das Original von Harry Chapin ist auf YouTube auch in mehreren sehenswerten Live-Versionen zu finden. ar
Alle Taxi-Songs des Taxi-Times-Adventskalenders finden Sie hier.
Beitragsfoto: Cindy Funk
Hallo!!
Was für ein genialer Adventskalender!
Ich muss!!! unbedingt das fetteste Lob an Axel Rühle aussprechen:
-geniale Songauswahl
– geniale Einleitende Texte
-geniales Geschichtsbewusstsein
-toller Blick in die Musikgeschichte.
-genialer Schreibstil
-alles genial.
Ich bin begeistert.
Würdiger Anwärter für den Pulitzer-Preis! Bewerbt euch!
Es lässt ein warmes Gutes Gefühl zurück:
Wir-sind-alt-und-haben-schon-so viel -tolle-Musik-miterleben-dürfen
Danke danke danke.
Inge aus Hamburg
Die schon mindestens 24. interessante Lebensgeschichten in Taxis erzählt bekommen hat.