Fast nichts bringt Gemüter so schnell in Wallung wie vermeintlich ungerechtfertigte Vorwürfe. Und im Verkehr wird es zusätzlich schnell teuer. Was sagt die Rechtsprechung dazu?
„Ich habe doch angehalten, ich habe schon gestanden.“ – „Ja, aber ich habe mich so erschreckt und bin deswegen gestürzt.“ Berührungslose Unfälle lassen sich selten einvernehmlich lösen, denn beide Seiten fühlen sich meist im Recht.
Wenn Radfahrer bei Ausweichmanövern oder Notbremsungen stürzen und so einen Zusammenstoß verhindern, sich dabei aber verletzen, steht der so genannte „berührungslose Unfall“ im Raum. Nach welchem Prinzip entscheiden Gerichte, wenn sie mit der Frage konfrontiert werden, ob ein Verkehrsteilnehmer ganz oder teilweise verantwortlich und somit haftbar für eine Schaden ist, den ein anderer Verkehrsteilnehmer erlitten hat, weil er einen Zusammenstoß befürchtete und deswegen schon vorher zu Fall gekommen ist?
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat sich in einer aktuellen Entscheidung (I-7 U 17/23) zu einem berührungslosen Unfall zwischen einem Fahrrad und einem Pkw besonders dezidiert geäußert. Eine vermeintlich Geschädigte fuhr mit ihrem Rad auf einem Fahrradweg, der grundsätzlich vorfahrtsberechtigt war. Der Beklagte fuhr auf einer untergeordneten Straße und näherte sich der Klägerin aus dieser Querstraße von links. Die Klägerin stürzte, weil sie befürchtete, es käme zu einem Zusammenstoß mit dem Kfz des Beklagten. Sie verletzte sich dabei erheblich. Das OLG Hamm hat die Schadensersatzklage der Klägerin in zweiter Instanz vollumfänglich abgewiesen. In erster Instanz hatte die Klägerin noch teilweise Erfolg gehabt.
Das OLG verwies dabei zunächst auf den Bundesgerichtshof (BGH), der dazu folgenden Grundsatz aufgestellt habe: „Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat.“ (BGH VI ZR 533/15, BGH VI ZR 263/09)
Das OLG Hamm konkretisierte dazu: Die Klägerin hätte beweisen müssen, dass der Beklagte entweder einen Verstoß gegen die Vorfahrtspflicht begangen habe, oder aber, dass sich zumindest die Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeugs verwirklicht habe. Beides sei in der konkreten Situation nicht der Fall gewesen. Das Beklagtenfahrzeug habe unstreitig deutlich vor dem Einmündungsbereich angehalten. Der Beklagte war also mit seinem Pkw nicht in den Einmündungsbereich hineingefahren. Ein Vorfahrtsverstoß habe somit nicht vorgelegen.
Zu prüfen war nun noch, ob sich die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs verwirklicht hat. Die Betriebsgefahr gilt immer dann als gegeben, wenn auch der Idealfahrer, der alle eventuellen Gefahren vorhersieht und zu verhindern versucht, eine Chance gehabt hätte, das Schadenereignis zu verhindern. Juristisch formuliert klingt das so: Bei einem Unfall zwischen einem Kraftfahrzeug und einem sonstigen Fahrzeug gilt, falls ein Zurechnungszusammenhang mit dem Betrieb des Kraftfahrzeugs besteht, eine verschuldensunabhängige Haftung des Pkw-Fahrers und Halters. Ob aber der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Kraftfahrzeugs und dem Eintritt des Unfalls besteht, hat ggf. der Geschädigte zu beweisen. Tritt einer so nachgewiesenen Betriebsgefahr des Pkws kein Verschulden oder Verursachungsbeitrag des Fahrradfahrers entgegen, haftet der Pkw-Fahrer zu 100 %. Hat der Fahrradfahrer den Unfall dagegen mit verursacht, dann tritt die Betriebsgefahr des Pkws entsprechend teilweise zurück, so dass es zu einer einzelfallabhängigen Haftungsquote kommt.
Das OLG Hamm stellt hierzu klar, dass auch ein Unfall zwar infolge einer objektiv nicht erforderlichen Abwehr- oder Ausweichreaktion im Einzelfall dem Betrieb des Pkws zugerechnet werden könne. Hierfür habe der Beklagte aber einen Anlass setzen müssen, der es aus Sicht der Klägerin erwarten ließe, dass diese nicht mehr darauf vertrauen durfte, er werde vor der Einmündung anhalten. Das wäre der Fall gewesen, wenn er in den Einmündungsbereich hineingefahren wäre oder seine Fahrweise objektiv hätte erwarten lassen, dass er nicht anhalten werde.
Vorliegend konnte die Klägerin den Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Pkws und dem Unfall aber nicht darlegen und beweisen, denn hierzu ist nach dem oben genannten Grundsatz des BGH nicht ausreichend, dass sich der Pkw am Unfallort befunden habe. Es müsse hinzukommen, dass er durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zum Unfall beigetragen habe. Der Vortrag der Klägerin, sie habe einen Schatten wahrgenommen und sich vor dem Motorgeräusch erschreckt, reiche hierfür nicht aus.
In Fällen, in denen der Pkw bereits in den jeweiligen geschützten Bereich eingefahren ist, wird dagegen die gegebene Betriebsgefahr schon in Folge des dann gegebenen Anscheinsbeweises für ein Verschulden des Wartepflichtigen regelmäßig als vorliegend erachtet werden. Hier dreht sich der Zeitfaktor gegebenenfalls dann aber immerhin bzgl. der Haftungsquote zu Gunsten des Wartepflichtigen. Wer sich in eine unübersichtliche Verkehrssituation hineintastet und dann wieder stehen bleiben muss, wäre als Verkehrshindernis ja auch frühzeitig erkennbar, je länger er dort steht, desto besser. Aber dann wird wohl kaum jemand noch erschrocken stürzen. Wer dies trotzdem tut, wird sich dann immerhin ein nicht unerhebliches Eigenverschulden auf die Haftungsquote anrechnen lassen müssen.
Was aber tangiert das alles den Taxler? Besonders relevant sind solche Unfälle leider für gewerbliche Vielfahrer außerhalb der Autobahn, allen voran somit für Taxler. Denn spätestens, wenn Schmerzensgelder oder sogar ein Ausgleich für gesundheitsbedingte Langzeitfolgen gefordert werden, sprengen solche Zahlungen die Renditen für die Kfz-Haftpflichtversicherer und treiben so die Versicherungskosten in unvorstellbare Höhen, wenn sich denn überhaupt noch ein Versicherer findet. Insofern macht es gerade für Taxler Sinn, eher besonders besonnen an solche Unfallabwicklungen heranzugehen, anstatt stumpf und stur erst mal alle Verantwortung abzustreiten und darauf zu hoffen, dass das Gericht das auch so sieht. Ansonsten droht ggf. ein böses Erwachen.
Kommt es also zu einem solchen Schaden, sollten Fuhrparkverantwortliche die Frage nach Schuld oder Unschuld erst einmal hintenan stellen, denn die lässt sich vor Ort eh nicht klären. Vielmehr sollten so viele Zeugenaussagen wie möglich gesichert werden. Noch besser wäre das Vorhandensein einer Dashcam. Vielleicht aber gibt es ja auch Verkehrskameras in der Nähe, die zur Aufklärung beitragen können? Denn nur mit eindeutigen Zeugenaussagen oder anderen Beweisen lässt sich die Haftungsquote ggf. drücken oder sogar auf Null reduzieren.
Natürlich sind im Übrigen auch andere Konstellationen als nun gerade berührungslose Unfälle von Autos mit dem Fahrrad denkbar, beispielweise mit Fußgängern, motorisierten Zweirädern oder auch anderen Fahrzeugen. In der Praxis aber sind eben Radler für diesen Schadensfall die häufigsten vermeintlich unschuldigen Unfallgegner und im Gegenzug wird in der Regel auch eher das Auto als Verursacher in Frage kommen, zumal auch nur in dieser Konstellation das Momentum der unfallbedingt steigenden Versicherungskosten zum Tragen kommt. Und leider ebenso natürlich wird dabei vor allem Taxlern gern eine besonders rabiate Fahrweise unterstellt, weil deren professionellere und schnellere Interpretation des Verkehrsgeschehens oft auch nur irrigerweise als Rücksichtslosigkeit ausgelegt wird. Dabei gibt es wohl keine Statistik, die belegt, dass Taxis an mehr Unfällen als andere Verkehrsteilnehmer pro Fahrkilometer beteiligt sind. Und gäbe es eine, würde die wahrscheinlich sogar das Gegenteil belegen. rw
Beitragsbild: Collage Remmer Witte