Würde man jeden zwingen, die von ihm verursachten Schäden auf Heller und Pfennig zu ersetzen, würden wohl viele Entscheidungsträger weit vorsichtiger agieren – doch das würde arg am Prinzip Solidargemeinschaft kratzen.
Ein Kommentar von Axel Rühle
Die Solidargemeinschaft ist eine hohe zivilisatorische Errungenschaft, die mit Weisheiten wie „einer für alle, alle für einen“ umschrieben wird. Alle zusammen bilden ein Sicherheitsnetz für den Einzelnen, wenn der in Schwierigkeiten gerät – oder durch sich selbst oder andere in Schwierigkeiten gebracht wird. Aber ist das auch dann noch zu rechtfertigen, wenn aus dem Einzelnen viele Einzelne werden, oder wenn die Schwierigkeiten mutwillig, fahrlässig, bewusst, ignorant und schuldhaft verursacht sind und ihre Behebung viel Geld kostet? Nicht selten wünscht man sich, jemand müsse selbst für den von ihm verursachten Schaden geradestehen.
Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer beispielsweise müsste 50.794 Jahre im Knast Zwangsarbeit ableisten, wenn er nur für seine Maut-Heldentaten vollständig zur Rechenschaft gezogen würde.* Stattdessen hat sein Nachfolgeminister in dieser Woche beschlossen, keine juristischen Schritte einzuleiten. Glück für Scheuer, der ein paar Millionen einer möglichen Strafe vielleicht gleich hätte zahlen können, sollte der Verdacht stimmen, den so einige im Taxigewerbe hegen, dass seine Gefälligkeiten Uber gegenüber finanziell nicht ganz uneigennützig erfolgt sind. Sollte er also beispielsweise fünf Millionen gleich abliefern, so müsste er nur noch 49.958 Jahre Knastarbeit leisten, um die 243 Millionen zurückzuzahlen. Auch das erscheint aus biologischen Gründen nicht ganz realistisch, selbst dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass er bei seinem Maut-Desaster Mittäter hatte, die auch jeder ein-zweitausend Jahre der Wiedergutmachungs-Arbeit übernehmen würden.
Letztendlich zahlt immer jemand Übergeordnetes den Schaden, und über allem steht – gerade in einer Demokratie – der Souverän, das Volk, auch Steuerzahler oder Melkkuh genannt, also wir alle. Verursacht ein angestellter Taxifahrer einen Unfall, so steht unmittelbar das Unternehmen dafür gerade – theoretisch. Das könnte schon bei etwas unglücklich verlaufenden Unfällen manchen Taxiunternehmer auf der Stelle ruinieren. Wird zum Beispiel ein Gefahrguttransporter beschädigt und die Chemikalien ergießen sich in die Botanik, kommen schnell sechs- bis achtstellige Beträge zusammen. Das muss dann die Kfz-Versicherung zahlen (falls sie es nicht schafft, sich rauszureden), die hat so viel. Und woher hat sie so viel? Von den Versicherungsbeiträgen, die wir alle bezahlen.
Wir alle sind es, die neben Andreas Scheuers Diäten auch den Schaden bezahlen, den er angerichtet hat. Und auch den ganzen volkswirtschaftlichen Schaden, den seine Freunde von Uber & Co. permanent anrichten. Die hochqualifizierten Fahrer haben den Blick die halbe Zeit auf dem Navi und verursachen Unfälle – wir alle zahlen. Sie haben trotz 70-Stunden-Woche zu wenig Lohn, verrichten zum Teil Schwarzarbeit und stocken trotzdem noch beim Arbeitsamt auf – wir alle zahlen. Die Konzerne schaffen es schon fast, die Geldgier ihrer Sponsoren zur Hälfte zu bedienen, zahlen aber in Deutschland keinen Cent Steuern – das machen wir alle für die.
Wir alle zahlen für alle und jeden: Ein Egoist lädt seinen Sperrmüll im Wald ab statt auf dem Recyclinghof und verdrückt sich, die Müllabfuhr muss kommen – wir alle bezahlen. Ein Behörden-Sachbearbeiter verrechnet sich und setzt einen erheblichen Geldbetrag in den Sand – wir alle bezahlen.
Ein nichtsnutziger Halbstarker mit dem Selbstwertgefühl einer Klobürste leiht sich in der Geldwäsche-Autovermietung eines arabischen Verbrecher-Clans eine 600-PS-Prothese und fährt mit 180 über den Kudamm – wir alle bezahlen, und zwar alles von den materiellen Unfallfolgen über die Entschädigung der Hinterbliebenen seiner Mordopfer und die Behandlungskosten aller Verletzten bis zu den Gerichtskosten und den Kosten für seinen hoffentlich unendlich langen und unendlich unangenehmen Knastaufenthalt. Die zerstörten Leben dabei sind nicht zu bezahlen. Alles andere bezahlen wir alle.
Immerhin konnte der Schwachkopf theoretisch halbwegs ahnen, was er tut.
Ganz und gar anders ist das offensichtlich in Situationen, die viele von uns gewohnt sind, erkennbar an vertrauten Überraschungen wie „heute von Gleis 4“, einer unangekündigt verkehrten Wagen-Reihenfolge, möglicherweise nicht reservierten Sitzplätzen, die ja vielleicht doch reserviert sind, oder „heute ca. 160 Minuten verspätet“. Da ist anscheinend niemand verantwortlich oder ahnt, was er tut. Sonst würde es ja nicht täglich geschehen. Aber immerhin hat man es ja in den Zug geschafft, der einen mit etwas Glück auch zum Fahrziel befördert, ohne dass Heizung, Klimaanlage, Beleuchtung, Bordküche, Steckdosen, WLAN, Toilettenspülung oder womöglich sogar die Fahrkartenkontrolle ausfällt.
Unabhängig davon, welcher Schienenverkehrsanbieter in Münster verurteilt worden ist: Besonders häufig erleben wir Pannen bei der Deutschen Bahn, und sei es ein einfacher, alltäglicher WLAN-Ausfall. Dann entsteht zwar ein insgesamt hoher volkswirtschaftlicher Schaden, weil z. B. ein Online-Redakteur seinen Artikel darüber, für wie lange Andreas Scheuer wohin gehört, nicht schreiben kann, weil sich ohne WLAN während der stundenlangen Bahnfahrt nicht recherchieren lässt, wie viel ein Häftling pro Stunde mit Knastarbeit verdient. Aber wer hat schon Muße, wegen eines solchen Arbeitsausfalls gegen eine zurückgebliebene, gebrechliche, autistische Seekuh mit Wasserkopf vorzugehen, bei der die Milz nicht weiß, was das Kleinhirn macht?
Ein signifikant unangenehmer, konkret messbarer Schaden entsteht erst, wenn der Zug gar nicht fährt (für Nahverkehrsnutzer in NRW normaler Alltag) und man schlimmstenfalls nicht mehr am vorgesehenen Tag das Fahrziel erreicht. Informiert wird man meist von überhaupt nicht über bruchstückhaft bis für dumm verkauft werdend. Wie sehr wünscht man sich als Betroffener, dass genau die paar Personen, die jetzt an dieser konkreten Situation schuld sind, persönlich hart bestraft und zur Rechenschaft gezogen werden, damit das ab morgen nie wieder passiert? Die Gleichgültigkeit und Überheblichkeit der Bahnmitarbeiter, die sich in ausbleibenden Durchsagen äußert, lässt einen erst recht kreativ bis unkonventionell über das angemessene Strafmaß nachdenken.
Aber wie klar ist einem gleichzeitig, dass die Verantwortlichen niemals zur Rechenschaft gezogen werden, weil sich jeder im bürokratisch aufgeschwemmten Wasserkopf der Institution verstecken kann, die 30 Jahre lang kaputtgespart wurde und ihre Behördenarroganz und Unbeholfenheit wohl in hundert Jahren noch nicht los sein wird. Den volkswirtschaftlichen Gesamtschaden, der im Fall der Deutschen Bahn AG mittelbar auf Gerhard Schröder, Wolfgang Tiefensee und Hartmut Mehdorn zurückgeht, könnte wohl keiner der drei innerhalb der restlichen Lebenserwartung unseres Sonnensystems im Knast abarbeiten.
Den Schaden bei nur einem einzigen der vielen täglichen Zugausfälle erleidet nicht nur ein Fahrgast, sondern schnell ein paar hundert. Soll nun jeder einzelne Betroffene sämtliche Kosten, die durch die unsägliche Unfähigkeit und Misswirtschaft der Deutschen Bahn entstehen, von Taxifahrt über Verpflegung bis Übernachtung und Verdienstausfall, bis auf den letzten Euro geltend machen können?
Der Gerechtigkeitswächter auf der linken Schulter sagt: Ja, selbstverständlich, das wäre endlich mal gerecht. Der Betriebswirtschaftler auf der rechten Schulter sagt: Das wäre zwar möglich, auch wenn die Bahn dann wahrscheinlich schneller pleite wäre als ein gesetzestreuer Uberpartner, aber sie hängt ja am Tropf der öffentlichen Hand, der nicht versiegt, denn sie gehört ja dem Bundesverkehrsministerium und somit uns allen – ein VEB quasi. Deshalb zahlen die Entschädigungen aber eben leider wie immer wir alle. Wollen wir Milliarden zahlen müssen, weil so viele Fahrgäste für die Unfähigkeit der Bahn entschädigt werden müssen? Die Bahn wird ja gebraucht, aber erwirtschaftet sie überhaupt mehr, als sie unter dem Strich an schadensersatzrelavanten Schäden verursacht? Und die durch sie kleingehaltenen Konkurrenzfirmen?
Und der gesunde Menschenverstand sagt: Wenn jeder einen Anspruch auf vollständige Entschädigung für jegliches erlittene Unrecht auf Heller und Pfennig hätte, dann würde nicht nur ein weltweiter Entschädigungs-Cashflow einsetzen, sondern es würde wahrscheinlich eine Industrie von Ideenfindern und Beratern entstehen, die hauptberuflich nach theoretischen Schäden suchen, die jeder Kunde theoretisch erlitten haben könnte und damit geltend machen kann, weil niemand ihm das Gegenteil beweisen kann. Dass das passieren würde, daran lässt schon die reale Existenz der verachtenswerten Abmahnanwälte keinen Zweifel. Wenn wir als Taxi-Times-Redaktion ein Foto vom verwüsteten Ahrtal, das im Netz kursiert, verwenden, um für Spenden an die Betroffenen zu werben, und ein Abmahnanwalt kommt uns wegen des Fotos mit einer Schadensersatzforderung wegen Urheberrechtsverletzung, dann weiß man, dass dieses Pack vor nichts Halt macht.
Das Gerichtsurteil aus Münster könnte also eine schwer zu stoppende Lawine des Ausnutzens der Solidargemeinschaft auslösen. Auch, wenn es für den einzelnen Betroffenen jedes Mal mehr als ärgerlich ist und man ihm die Entschädigung von Herzen gönnt: Sollten andere Gerichte dem Urteil folgen, ist die Entwicklung einer Hängemattenmentalität ungeahnten Ausmaßes zu befürchten, deren finanzielle Folgen unabsehbar wären. Dann würde aus der Solidargemeinschaft ein „alle gegen alle“. So weit darf es nicht kommen. ar
* Grundlage des Rechenbeispiels: Für Herrn Scheuer haben wir standesgemäß eine komfortable 40-Stunden-Woche (aus unserer Sicht Luxus) in einem Knast mit Höchstlohn angenommen. Häftlinge in Deutschland erhalten für Knastarbeit einen Stundenlohn von bis zu 2,30 Euro – betriebswirtschaftlich gesehen viel zu viel, weil Gefängnisse uns Steuerzahler gut 190 Euro am Tag pro Verbrecher kosten, aber das haben wir hier gar nicht erst berücksichtigt, da die im Knast arbeitenden Verbrecher ansonsten draufzahlen müssten, wenn sie für die von ihnen verursachten Kosten geradestehen müssten.
Beitragsfoto: pixabay
Die eigentliche Verwunderung die sich zum Thema Scheuer ergibt:
Warum ist er noch Volksvertreter? Das Ganze hätte früher dafür gesorgt daß er seinen Hut zu nehmen hätte. Aber diese Arroganz weisen in zwischen viel zu viele Politiker auf. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
Zum Thema Solidargemeinschaft:
Es wird Zeit das alle in das Kranken- und Rentensystem einzahlen. Eben auch Politiker, Beamte, Superreiche, Leute die Ihr Geld mit Geld verdienen(Aktien etc.) und nicht zu letzt die Vorstände die sich die Taschen voll lügen(Siehe deutsche Bahn)