Die Anzahl der Krankschreibungen steigt rasant an. Es gibt nachgewiesene Missbrauchsversuche windiger Geschäftsleute, bei denen eAUs käuflich erworben werden können. Jetzt werden wieder Forderungen nach Karenztagen laut. Ist ein gelber Schein inzwischen nichts mehr wert?
Lange galt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) als unangreifbar. Dann wurde das Verfahren digitalisiert und die Bescheinigungen werden nun elektronisch übermittelt (eAU). Seit 2023 gibt es auch die Option zur Ausstellung einer eAU nach telefonischer Diagnose. Wird das ausgenutzt?
Der Vorstandsvorsitzende der Allianz-Versicherung, Oliver Bäte, sprach sich jüngst angesichts von „Rekordkrankenständen“ in Deutschland dafür aus, den Karenztag bei Krankmeldungen wieder einzuführen. Arbeitnehmer würden so die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen, sagte er dem Handelsblatt. Der Ökonom Bernd Raffelhüschen fordert in der „Bild“ sogar drei Tage keinen Lohn bei Krankheit.
Zwanzig Tage im Jahr seien die deutschen Arbeitnehmer krank. Und so taucht der längst tot geglaubte Vorschlag zur Wiedereinführung von Karenztagen wieder aus der Versenkung auf. In den 70er-Jahren abgeschafft, hatte er noch einmal ein Beinahe-Comeback zum Ende der Amtszeit von Helmut Kohl, was aber durch die Wahl von Gerhard Schröder zum Bundeskanzler 1998 wieder ad acta gelegt wurde.
Nicolas Ziebarth vom Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sagte gegenüber der „Welt am Sonntag“, mit einer abgesenkten Lohnfortzahlung werde es weniger Menschen geben, die sich krankmeldeten, obwohl sie nicht krank seien, „also blau machen“. Der DGB nennt die Vorschläge dagegen „zutiefst ungerecht“, die IG Metall „unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen“. Wer Karenztage aus der Mottenkiste hole, greife die soziale Sicherheit an und fördere „Präsentismus“, also krank zur Arbeit zu erscheinen. Vielleicht auch nur aufgrund des aktuellen Turbowahlkampfes hat diese Forderung es jedoch in keines der Wahlprogramme zur Bundestagswahl geschafft. Somit bleibt dieser Vorschlag wohl vorerst ein Medientiger.
Was aber liegt dem unbestreitbaren Anstieg der registrierten Krankheitstage zugrunde? Eine DAK-Studie stellt fest, dass dieser Anstieg mit der Einführung der eAU zusammenhängen, sich in der Realität aber gar nicht unbedingt wieder finden würde. Im Gegensatz zur vordigitalen AUB würden heute durch die eAU nämlich alle Krankschreibungen von den Krankenkassen erfasst. In Zeiten des „gelben Scheins“ hätten die Versicherten dagegen die Bescheinigung zur Vorlage bei der Krankenkasse häufig nicht an dieselbe weitergeleitet. Im Ergebnis hatten die Arbeitgeber somit ähnliche Lohnfortzahlungskosten, die Krankheitszeiträume wurden nur nicht statistisch erfasst.
Zugleich ist es erheblich einfacher geworden, eine AUB zu erlangen, beispielsweise durch die Option, sich eine solche telefonisch ausstellen zu lassen. Dabei belegen verschiedene Gerichtsentscheidungen, dass auch vor Gericht inzwischen des Öfteren Zweifel aufkommen, ob eine AUB tatsächlich faktenbasiert ist – worüber die Medien berichten. Verständlich, dass Arbeitgeber, die die Leidtragenden sind, genau hinschauen, ob eine AUB unberechtigt ausgestellt wurde.
Der Arbeitnehmer beweist seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage der AUB, die dafür das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und daher wichtigste Beweismittel ist. Einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB kommt so grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Auch die Arbeitsgerichte sehen daher normalerweise mit Vorlage einer AUB den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht an. Gerade im Jahr 2024 gab es allerdings sogar eine ganze Reihe von Urteilen, die diesen Status in Frage stellten und so ein gewisses „Downgrade“ der AUB bestätigen.
Generell muss der Arbeitgeber differenziert die tatsächlichen Umstände darlegen, will er Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers wecken, und da liegt die Messlatte verständlicherweise nach wie vor sehr hoch. In den aktuellen Entscheidungen ging es unter anderem um Bescheinigungen, bei denen der Zeitraum der Krankschreibung Zweifel bei den lohnfortzahlungspflichtigen Arbeitgebern auslöste. Gerichtlich entschieden wurde, dass Krankschreibungen, die genau den Zeitraum bis zu einem Kündigungstermin abdeckten, durchaus allein aufgrund dieser Deckungsgleichheit angezweifelt werden dürfen. Gleiches gilt, wenn die AUB für einen Zeitraum ausgestellt wird, für den der Arbeitnehmer zuvor Urlaub begehrt hat, der dann abgelehnt wurde.
Schon länger bekannt war, dass auch die Drohung mit einer Krankschreibung diese Voraussetzung erfüllt, denn den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich dabei aus den Äußerungen des Arbeitnehmers, aus den Umständen der Krankmeldung oder auch aus der AUB selbst ergeben. Dies gilt somit auch, wenn ein Arbeitnehmer auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig ist oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt.
Aber es gibt inzwischen auch bestimmte Ärzte, deren Namen allein schon den Beweiswert einer AUB in Frage stellen. So warnte die Ärztekammer Nordrhein kürzlich gleich vor drei Medizinern, die nicht berechtigt seien, AUBs auszustellen. Die in Köln, Essen und Düsseldorf gemeldeten Ärzte Dr. Haresh Kumar, Ahmad Abdullah und Masroor Umar seien keine Mitglieder der dort zuständigen Ärztekammern, und alle drei seien wohl auch in Dortmund, Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main aktiv. Auch der Anbieter Dr. Ansay ist mit seinem Geschäftsmodell internetbasierter AUBs bereits vor dem Oberlandesgericht Hamburg gescheitert. Diese Missbrauchsoption wurde sicherlich erst durch die Einführung der eAU forciert.
Gemäß der AUB-Richtlinie der Ärztekammern ist der Beweiswert einer AUB darüber hinaus bei einer Rückdatierung erschüttert, oder beispielsweise, wenn eine AUB für mehr als zwei Wochen ausgestellt wurde. Eine ausreichende Befragung zum Arbeitsplatz ist im Rahmen der ärztlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ebenfalls zwingend – ein Fakt, den einige Ärzte im Alltag leider gern einmal vergessen. Ohne die Befragung zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen aber gilt der Beweiswert der AUB als erschüttert. An den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB dürfen Gerichte keine überhöhten Anforderungen stellen. Sie sollen vielmehr berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt.
Trotzdem wird so ein Beleg nie einfach sein. Sind aber berechtigte Zweifel des Arbeitgebers erst einmal belegt, dann dreht sich die Beweislast, und der Arbeitnehmer muss seine Arbeitsunfähigkeit belegen. Der Arbeitnehmer muss dazu für den gesamten Zeitraum der AUB bezogen detailliert schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Und es reicht dabei auch nicht, wenn der Arbeitnehmer lediglich den behandelnden Arzt als Zeugen benennt oder ärztliche Diagnosen offengelegt. Er muss konkrete gesundheitliche Einschränkungen, die diesen Diagnosen entsprechen, vortragen und deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit konkretisieren. Auch der Vortrag, bestimmte Beschwerden hätten sich nicht gebessert, ist unzureichend, er muss vielmehr ausführen, welche Beschwerden genau in welcher Frequenz und Intensität bestanden.
Ist der Arbeitnehmer dann seiner „Substantiierungspflicht“ nachgekommen und hat beispielsweise auch seine Ärzte von der Schweigeplicht entbunden, ist wiederum der Arbeitgeber am Zug und muss den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers entkräften. Gelingt dies, rechtfertigt eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit regelmäßig eine ordentliche und sogar außerordentliche Kündigung des Arbeitnehmers.
Bei aller Emotion, die je nach Sichtweise in dem Thema steckt: Lohnfortzahlung ist teuer. Blaumachen ist daher kein Kavaliersdelikt, sondern ein strafbarer Betrug. Und wer darüber diskutiert, sollte bedenken, dass hier nicht Arbeitgeber oder Arbeitnehmer die Guten oder die Bösen sind, sondern dass es hier um einen gesellschaftlichen Deal geht, dessen Einhaltung allseitig kontrollierbar bleiben sollte, wenn er Bestand haben soll. rw
Bild: Remmer Witte
Wenn es hier nicht um „Gut oder Böse“ gehen soll und Emotionen zugunsten der Einhaltung eines gesellschaftlichen Deals zurück stehen sollen, dann bleibt die Frage: Und wo steht das Taxigewerbe? Steht es hinter diesem Deal, zu dem bekanntlich immer zwei Seiten gehören? Leistet es immer und vollumfänglich, gesetzeskonform Lohnfortzahlung im Krankheitsfall?
Ich habe mir mal in den letzten Tagen die Mühe gemacht und in „meiner“ kleinen Großstadt Oldenburg (natürlich nicht repräsentativ) rumgefragt. Die Antworten waren erschreckend und deckten die gesamte Bandbreite von legal bis komplett illegal („Pauschal 50€“, „Kriege die Ferienwohnung umsonst“) ab.
Halten sich die deutschen Taxiunternehmen an den gesellschaftlichen Deal? Oder macht jeder was er will? Ich weiß es nicht…
Natürlich nur die Unternehmen, welche wirklich Umsatz machen und ehrlich alle Abgaben tätigen. Bei den restlichen mind. 90% gilt: Wer nicht fährt, ob krank oder in Urlaub, der bekommt auch nichts.
Was kommt da wohl als realer Stundenlohn raus, wenn Urlaub genommen, man mal krank ist, nachts + Samstag + Sonttag aber nichts davon bezahlt wird, außer die Umsatzbeteiligung, wenn man fährt?
Deswegen würde ich mir solche Beiträge und die zum Mindestlohn schön kneifen.
Ohne unsere Gemütlichkeit und Passivität, endlich mal den Job zu wechseln, damit am Ende vielleicht eine Rente von 1.000€ rauskommt, würde in Deutschland nichts mehr gehen im ach so sauberen Taxigewerbe.
Lieber Ben, Ihren Behauptungen müssen wir in dieser Form entschieden widersprechen. Woher wollen Sie wissen, dass 90% der Taxibetriebe unehrlich agieren und keine gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen gewähren? Solch eine undiffenzierte Behauptung ist ein Schlag ins Gesicht aller ehrlich agierenden Taxi- und Mietwagenbetriebe und ein pauschaler Rufmord an der Branche. Bitte nutzen Sie künftig andere Foren für solche abstrusen Behauptungen.
Lieber Gerald, als praktizierender Betriebsrat hast Du vergessen zu erwähnen, dass Dein Arbeitgeber hier nach den gesetzlichen Vorgaben sehr wohl ordentlich nachkommt. Auch das gehört gegebenenfalls zu Deinen Pflichten, wenn Du denn in dieser Funktion kritisch kommentieren möchtest.
Aua. Es gehört natürlich auf gar keinen Fall zu den Pflichten eines Betriebsrats, irgendwelche Interna aus dem Betrieb auszuplaudern.
Dass Betriebsräte in der Öffentlichkeit Stellung beziehen, ist Normalität.
Aus meinem Kommentar geht hervor, dass in Oldenburg die gesamte Bandbreite an legaler und illegaler Lohnfortzahlung im Krankheitsfall anzutreffen ist.
Mag sich jeder entsprechend Gedanken machen, ob ich in einem Betrieb arbeite, der auf der „hellen Seite der Macht“ steht oder nicht. Die Antwort liegt auf der Hand.